Auch wenn mir das Erlebnis noch viel zu nah geht und ich noch gar nicht richtig angekommen bin, will ich jetzt gleich von meinen letzten Tagen in Ascheberg (Westfalen) berichten.
HALTlose PROSA nennt sich der Wettbewerb, den die Stadt in diesem Jahr zum zweiten Mal ausgeschrieben hat. Gesucht war Prosa mit literarischem Anspruch, geschrieben von jungen Autoren. Ich hatte das Glück, gerade noch so in die Altersgrenze (18-26 Jahre) zu fallen, und noch größeres Glück, ausgewählt zu werden.
So fand ich mich gemeinsam mit sieben anderen Preisträgern in der Stadt Ascheberg wieder, die eigentlich ein Dorf ist. Ein Ort, wo man einander grüßt und kennt, wo Nachbarn wie eine große Familie alles gemeinsam planen und erleben und wo man sich selbst ohne Orientierungssinn ganz allein durch die Straßen navigieren kann, indem man nach dem hohen Kirchturm schaut.

Dort wurden wir aufgenommen, direkt in den Familien der Stadt und durften für vier Tage ein Teil all dessen werden. In diesen vier Tagen, an die ich mich mal erinnere, als wären es nur Stunden, mal als wären es Wochen gewesen, besuchten wir Schreibwerkstätten. Dabei wurden wir je zu viert von zwei Profis der Literaturszene angeleitet – im Fall meiner Gruppe vom Autor Jörg Albrecht und vom Lektor Thorsten Ahrend vom Wallstein Verlag. Gemeinsam haben wir unsere Wettbewerbstexte auseinander genommen und aus allen vorhandenen und einigen neu hinzugedachten Blickwinkeln betrachtet. Entstanden sind so nicht nur polierte Versionen unserer alten Texte, sondern auch Inspiration und Anstoß für neue.

Am Freitag, den 22.09.2017, durften wir schließlich präsentieren, was in den Werkstätten entstanden ist. Zuerst morgens vor Hunderten von Schülern und dann abends im Gasthaus bei Livemusik.


Nun bin ich physisch zurück, aber in Gedanken noch nicht. Ich hänge noch am Kirchturm und bei den vielen wunderbaren Menschen, die ich in den letzten Tagen kennenlernen durfte – allen voran denen, die denken wie ich und schreiben wie ich und doch auch ganz anders. Ich bin froh, diese Zeit mit euch geteilt zu haben und ich hoffe sehr, dass es stimmt, was man sagt und man sich immer zweimal trifft im Leben – mindestens.
Die Wettbewerbstexte aller Preisträger gibt es hier: HALTlose PROSA
Und hier meine Wettbewerbstext noch einmal aus einem etwas anderen Blickwinkel: Feiglinge
Feiglinge
Diese Variation meines Textes »Schwindel« entstand während des Schreibworkshops HALTlose PROSA vom 19.09. bis zum 22.09.2017 in Ascheberg (Westfalen).
»Ich hab keine Lust«, sagst du mit dem Blick in den Abgrund.
»Frag mich mal …« Ich schaue nicht nach unten. Stattdessen sehe ich zu unseren Freunden hinter uns im Gras, die sich immer noch aneinander festgurten. Ein letztes Seufzen, dann straffe ich die Schultern und wende mich wieder zu dir. »Hilft ja alles nichts.« Ich versuche mich an einem Lächeln. »Wenn wir jetzt gleich gehen, haben wir es hinter uns.«
Du antwortest nichts, bist einfach nur blass und stumm und das ist Antwort genug.
Ich strecke die Arme aus und obwohl ich Angst habe, gehe ich mit gutem Beispiel voran. »Komm!«
»Ach, was soll’s!« Ich kann dich jetzt nicht mehr sehen, bloß hören, aber deine Stimme bleibt dicht hinter mir.
So betreten wir die Brücke.
»Ein Geländer wäre hilfreich«, rufst du über den heulenden Wind hinweg.
»Ach was!« Wie ein Zirkusartist auf dem Hochseil setze ich einen Fuß direkt vor den anderen. Ganz gerade, dicht an dicht.
»Was machst du da eigentlich?«, fragst du.
»Ich balanciere.«
»Wieso? Die Brücke ist sicher einen Meter breit. Oder so. Genug Platz für zwei Füße jedenfalls.«
»Klar.«
»Aber?«
»Ich traue der Sache trotzdem nicht.«
»Okay. Verständlich.«
Wir schweigen. Doch das macht den Wind nur umso lauter und den Abgrund umso realer.
»Kommen die anderen beiden nach?«, frage ich deshalb. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen.
»Nein, die sichern sich immer noch.«
»Feiglinge!«
»Du sagst es!«
Schweigen. Ich suche ein neues Thema, aber du bist schneller: »Naja, vielleicht sollten wir zurück und auf die anderen warten? Weil wir nett sind und so?«
Ja!, schreit alles mit mir. Nur zurück auf festen Boden! Doch ich schüttle den Kopf. »Nein. Wenn wir jetzt umkehren, dann bleibe ich ganz da. Nochmal tue ich mir das hier nicht an!«
»Ich weiß.«
»Scheiß Höhenangst!«, setze ich nach.
»Jap.«
Wieder dieses verdammte Schweigen. Nur der Wind brüllt.
Ich schaue nach vorn, nur nach vorn, bloß nicht auf meine Füße. So trete ich irgendwann blind einen Stein los. Er rollt über die geländerlose Brücke, und wie der letzte Idiot schaue ich hinterher. Direkt in den Abgrund.
Scheiße, ist das tief! Mir wird schwindlig, dann schlecht. Ich will es dir sagen, will dich warnen, will um Hilfe bitten, aber ich kann nicht. Keine Luft! Meine Arme sacken nach unten, die Knie werden weich. Ja klar, die Brücke ist breit, aber wenn ich jetzt falle …
Plötzlich schließt sich deine Hand um meine. »Alles okay, ich hab dich!«
Ich drücke deine Hand und kann nicht antworten.
»Nicht runter schauen!« Deine Stimme ist gedämpft vom Lärm. Ich weiß nicht mehr, was da rauscht, der Wind oder das Blut in meinen Ohren.
»Mach einfach die Augen zu!«
Ich drücke noch einmal deine Hand, und auch wenn es Wahnsinn ist, was du da vorschlägst, tue ich es: Ich schließe die Augen.
Der Abgrund ist weg, doch das Rauschen bleibt und der Schwindel auch. Ich habe Angst, oben und unten zu verlieren, Angst, zu stürzen. Alles verschwimmt, alles außer deiner Hand. Ich kralle mich daran fest, halte still, und so stehe ich aufrecht, bis der Schwindel endlich nachlässt.
»Geht es wieder?«
Die Sorge in deiner Stimme gibt mir die Kraft, die Augen zu öffnen und zu nicken. Einfach, um dich zu beruhigen. »Ja! Alles gut!«
Und als ich den Rücken straffe, wird die Lüge zur Wahrheit. Es geht wieder.
Ich lasse deine Hand los und gehe weiter.
»Mach dir nichts draus!«, rufst du hinter mir. »Sowas passiert den besten.«
»Klar. Zumal ohne Seil …«
»Jap.«
»Kommen die Feiglinge denn langsam mal nach?«
»Jap.«
»Na endlich!«
Du lachst. Es ist dieses leise, halb verschluckte Lachen, das zwar nicht unehrlich ist, hinter dem man aber die Panik lauern hört. Richtig!, erinnere ich mich. Dir macht das hier genauso wenig Spaß wie mir.
In diesem Moment will ich dir nah sein, und weil ich das so nicht sagen kann, schlurfe ich mit den Füßen, bis sich noch einmal ein Stein löst.
Diesmal schaue ich nicht nach unten, aber das sage ich dir nicht. Stattdessen greife ich nach hinten und suche deine Hand.
Es ist eine kurze Suche.
»Alles okay?«, fragst du. »Geht es?«
»Ja.«
Wir teilen noch einen Moment fiebrige Hitze und Angstschweiß, dann lasse ich dich wieder los.
»Weiter!«, dränge ich. »Ehe uns die Anfänger da hinten doch noch einholen!«
Jetzt klingt dein Lachen schon ein wenig gelöster. »Keine Chance! Uns kann so schnell keiner das Wasser reichen.«
»Oder das Seil.«
»Oder das, ja.«
»Gut so!«
Wir schweigen. Der Wind rauscht noch, ich glaube, mein Blut auch, doch so kurz vor der anderen Seite kommt es mir leiser vor, weniger bedrohlich.
»Hast du eigentlich je mit Seil …«, setze ich an und unterbreche mich.
»Was?«, rufst du.
»Wolltest du je …«, beginne ich lauter, aber auch dieser Satz bleibt unbeendet.
»Je was?«
»Ach nichts.«
Schweigen.
»Ich dachte nur, vielleicht wäre es leichter, also nur so zur Abwechslung, wenn wir …«
Und da ist es endlich! Das rettende Gras!
Ich klettere von der Brücke, drehe mich um und strecke dir meine Hand entgegen. Du nimmst sie, und du hältst sie ganz fest, und schon stehen wir beide da, dicht an dicht, sicher auf der anderen Seite.
»Wenn wir was?«
»Wenn wir, ich weiß nicht … das nächste Mal einen Baum nehmen statt einer Brücke?«
Dein Blick ist fragend.
Ich sehe dich an und straffe die Schultern. »Ohne Seil natürlich«, setze ich hinzu.
Du schaust noch einen Moment, dann nickst du und wir gehen weiter. Warten im Gras auf die anderen.
Feiglinge.