Blutspuren im Hyperraum: Eine SciFi-Crime-Anthologie (2023)
Hrsg.: Nele Sickel
Eridanus Verlag
ISBN: 978-3-946348-43-6
Das Verbrechen hat eine Zukunft!
Eine trauernde Mutter begibt sich auf die Spuren ihres verstorbenen Sohnes – und heuert als Putzkraft auf einem interstellaren Kreuzfahrtschiff an. Zwei ungleiche Polizisten – einer menschlich, die andere nicht – fragen sich, wer da eigentlich ständig auf sie schießt. Ein Privatdetektiv ermittelt unter Einsatz seines Lebens zwischen Ammoniakschwaden und Geiferwürmern. Eine Baulöwin, deren Schuld längst erwiesen ist, bedient sich einer eingestaubten Methode und hochmoderner Video-Technologie, um ihren Kopf doch noch aus der Schlinge zu ziehen.
Vier Autoren wagen einen Blick in die Zukunft des Krimis und stellen fest: Gemordet wird noch immer!
Mit Novellen von: Stefan Lammers | Nob Shepherd | Nele Sickel | Sabrina Železný
Eigene Novelle: Eine Studie in Zimt
LeseprobeEine Studie in Zimt – Leseprobe
1 – O du fröhliche
»Ich habe nichts gegen die guten alten Shoppingcenter. Ehrlich nicht.« Isabella Jansen lehnte sich auf ihrem edlen, cremefarbenen Sofa zurück.
Pippas Fohne schwirrte im Halbkreis um sie herum, fing die gesamte nüchterne Geschäftsfrau ein – von den flachen Lederschuhen über die weite, zimtfarbene Hose und den pastellrosa Strickpullover bis hinauf zum blonden Pferdeschwanz. Alles an Isabella Jansen war stimmig, elegant, zurückgenommen und ein bisschen zu steril. Ihre Kleidung, die wenigen Designermöbel in dieser großen, hellen Wohnung. Schön, aber eiskalt. Das war ein Problem. Gerade jetzt im Winter hatten die Leute für Kälte nichts übrig.
»Die Entscheidung, das Schloss-Center abzureißen, habe ich nicht getroffen. Ich mache lediglich den Job, für den ich bezahlt werde.«
Pippa lehnte sich im Sessel zurück, spiegelte die Gestik ihrer Klientin, versuchte so, Vertrauen aufzubauen. »Vielleicht können wir an dieser Stelle eine Geschichte aus Ihrer Kindheit einbauen. Eine glückliche Erinnerung, mit der wir dem Publikum zeigen, dass auch Sie die Schließung des Centers bedauern. Weihnachtsshopping mit den Großeltern zum Beispiel. Die erste Zuckerwatte, der Teddy, den Sie bis heute hüten, so etwas. Die Leute lieben Weihnachten.«
»Ich shoppe online.«
Pippa presste die Lippen zusammen. Sie hatte zwar mit keiner großartig anrührenden Anekdote gerechnet, allerdings doch zumindest mit irgendetwas. Glücklicherweise konnte man Videos editieren.
»Wieso reden wir überhaupt über das Bauprojekt? Ich stehe weder wegen des Shopping-Centers noch wegen des neuen Versand-Lagerhauses vor Gericht.«
»Nun, der tragische Unfall ereignete sich auf Ihrer Baustelle.«
»Der Mord.«
Mit einem Wink gab Pippa der Fohne zu verstehen, sie möge die Aufnahme pausieren. Sie lehnte sich vor, sah ihrer Klientin bewusst in die Augen. »Hören Sie, Isabella. Ich darf Sie doch beim Vornamen nennen? Meiner Erfahrung nach ist das für unsere Art der Arbeit hilfreich.«
Isabella nickte knapp.
»Es ist egal, was in der Anklage steht, Sie und ich, wir reden ausschließlich von dem tragischen Unfall. Ein Baugerät hat versagt, jemand ist ums Leben gekommen. Das ist schrecklich, trotzdem hatten weder Sie noch Ihre Mitarbeiter je böse Absichten.«
»Das Gerät ist ein Vorschlag-Bot. Und er hat nicht versagt, er funktioniert einwandfrei. Jemand hat ihn benutzt, um den Mann zu ermorden.«
Die nüchterne Art, mit der Isabella das sagte, jagte Pippa einen kalten Schauer über den Rücken. Gut, dass sie die Aufnahme gestoppt hatte. Würde diese Szene geleakt, der Fall wäre nicht mehr zu retten.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie verstehen«, sagte Pippa mit aller Ruhe, die sie aufbringen konnte. »Die Anklage ist bereits eröffnet, die Schuldige gefunden. Und das sind Sie. Es ist nun einmal Ihre Baustelle. Selbst wenn wir argumentieren würden, dass einer Ihrer Mitarbeiter für den Vorschlag-Bot verantwortlich war, vielleicht sogar einen Fehler bei der Bedienung gemacht hat, so bleiben Sie doch die Firmenleiterin. Letztlich hätten Sie die Geräte besser sichern, die Leute besser ausbilden müssen. Das ist es zumindest, was die Öffentlichkeit sagen wird. Reden wir von Mord, dann werden Sie es sein, die dafür lebenslang hinter Gitter wandert.«
Isabella verschränkte die Arme. »Ich soll also lügen?«
»Wissen Sie denn genau, was passiert ist?«
»Nein. Ich war zwar vor Ort, aber auf einem anderen Teil der Baustelle.«
»Sehen Sie, deshalb sprechen wir von dem tragischen Unfall. Für Unfälle gibt es kein Lebenslänglich. Mit etwas Glück kommen Sie mit einem Gewerbeverbot und einer Bewährungsstrafe davon.«
»Aber ich war es nicht.«
»Ich glaube Ihnen.« Unter Isabellas Erzähl-mir-keine-Märchen-Blick schrumpfte Pippa ein kleines bisschen. »Sowieso kommt es darauf nicht an. Die Leute wollen das nicht hören. Sie sind angeklagt, Sie werden zur Rechenschaft gezogen. Sie wissen doch, wie das läuft. Nach den wirklich sympathischen Videos stimmt man für eine milde Strafe. Immerhin sollen diejenigen, die etwas für unsere Gemeinschaft tun, weiterhin die Möglichkeit dazu haben, selbst wenn sie einmal Mist bauen.«
»Ich schaue selten fern.«
Diesmal war es an Pippa, skeptisch dreinzublicken.
»Und ich vote nie.«
»Ehrlich? Nie?«
Isabella zuckte die Schultern. »Nicht meine Art der Unterhaltung.«
Pippa ertappte sich dabei, geistesabwesend eine Haarsträhne um die Finger zu drehen. Sie zog die Hand zurück, wusste allerdings nicht, wohin damit. Wäre Isabella eine aufmerksame Gastgeberin gewesen, Pippa hätte wenigstens eine Tasse zum Festhalten gehabt. So vergrub sie die Finger hilflos im teuren Sesselpolster. »Umso weniger Sie vom Voting verstehen, umso wichtiger, dass Sie auf meinen Rat hören. Es bringt nichts, über die Fakten des Unfalls zu diskutieren. Was wir wollen, ist, dass die Leute Sie mögen. So und nicht anders gewinnt man Prozesse.«
»Na schön.« Isabella legte den Kopf in den Nacken, rollte ihn von einer Seite zur anderen. »Dann legen Sie mal los.«
Mit einem Wink bedeutete Pippa der Fohne, die Aufnahme fortzusetzen. Das Gerät hob leise rauschend von der gläsernen Tischplatte ab, auf der es sich niedergelassen hatte, kollidierte auf dem Weg nach oben fast mit einem geschäftig umherschwirrenden Staubwedel-Bot, und setzte schließlich zu einer neuen Kreisbahn um Isabella an.
»Dann erzählen Sie mir bitte von sich. Was machen Sie, wenn Sie gerade nicht auf der Baustelle sind? Haben Sie Familie, die sie besuchen? Oder vielleicht irgendeinen Verein, bei dem Sie aushelfen?«
»Ich bin nicht der familiäre Typ. Und ein Vereinsmensch noch weniger.«
»So etwas frisst ja auch eine Menge Zeit, und Sie sind mit Ihrem Betrieb sicher viel beschäftigt.« Pippa lächelte diplomatisch. »Gibt es einen guten Zweck, für den Sie hin und wieder spenden?«
»Nein.«
»Ein spannendes Hobby?«
Isabella schüttelte den Kopf.
»Sie werden doch nicht nur arbeiten.«
»Ich bin nicht Ebenezer Scrooge, falls Sie das fürchten.« Isabella lächelte schmal.
Pippa schaute sich in dieser sterilen Wohnung um, in der es keinen Adventskranz, keine Lichterketten, nicht einmal Tannengrün zu entdecken gab, und verkniff sich gerade noch so das Echt nicht?
»Scrooge«, wiederholte sie stattdessen. »Das ist doch etwas. Mögen Sie also Dickens? Klassische Literatur?«
»Zu sentimental. Ich mag gutes Essen und ich schaue Snooker.«
»Sie kochen?«
»Nein, ich bestelle.«
»Snooker mit Freunden?«
»Allein.«
»Sonst nichts?«
»Ich wandere gern. Auch allein.«
»Könnten Sie sich vorstellen, sich dafür einen Hund anzuschaffen?«
»Ich will kein Haustier.«
Pippa schürzte die Lippen. Sie winkte ihre Fohne zu sich. »So kommen wir nicht weiter.«
»Aber ein Hund wäre die Lösung gewesen?«, fragte Isabella stirnrunzelnd.
»Ein Hund wäre ein Anfang gewesen. Haben Sie Freunde, mit denen ich reden kann? Nachbarn, mit denen Sie sich gut verstehen? Irgendetwas?«
»Nein.«
»Sie haben wirklich niemanden?«
»Da gibt es einen Mann. Allerdings wird der Ihnen vor der Kamera nichts bringen. Er ist verheiratet.«
Nur mit Mühe vermied Pippa es, die Augen zu verdrehen. »Sagen Sie, Isabella, wollen Sie ins Gefängnis?«
»Nein. Und noch einmal: Ich gehöre dort nicht hin. Immerhin bin ich unschuldig.«
»Dann verraten Sie mir bitte, wie ich Sie durchs Voting bringen soll.« Pippa fing ihre Fohne ein und ließ sie in der Handtasche verschwinden. »Ihr Versandhaus-Projekt hat die Öffentlichkeit verärgert. Für den Unfall wollen Sie sich nicht entschuldigen –«
»Weil es keiner war.«
»– und privat haben Sie auch nichts, was Sie den Leuten näherbringen könnte. Was um alles in der Welt soll ich den Menschen über Sie erzählen?«
Isabella zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ist Ihr Job, nicht meiner.«
The ‰-Files: Die Promille Akten (2022)
Hrsg.: Nele Sickel & Markus Heitkamp
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-064-7
Er gurgelt und schmeichelt, sprudelt und prickelt. Er beißt, brennt, zischt und knallt: Alkohol. Mal Freund, mal Feind, immer aufregender Begleiter. Womit aber wehrt man sich gegen volltrunkene Orks? Wie viel Champagner vertragen Wunschfeen? Und kann der richtige Fusel einem einfachen Menschen vielleicht sogar ungeahnte Kräfte verleihen?
In 11 Geschichten enthüllen die Promille-Akten feuchtfröhliche Wahrheiten über die beschwipste Seite der phantastischen Welt. Hier werdet ihr erblinden – äh, quatsch, alles finden: Zunder und Wunder. Wermut und Schwermut. Schein, Sein und … ach ja: Wein.
Eigene Kurzgeschichte: Blackout
Blackout – Leseprobe
Kopfschmerz. Das ist das Erste, was ich wahrnehme, als ich erwache. Stechender Kopfschmerz, direkt hinter der Stirn, ganz dicht über den Augen. Dann: Übelkeit, nass, kalt, dunkel und es stinkt nach Kotze. Und Durst. Ich habe einen Riesendurst.
Schwerfällig rolle ich mich auf den Rücken. Mein durchgeweichtes Shirt patscht leise auf die halten Fliesen, die ich spüre, aber nicht sehe, genauso wenig wie die weiche Erhebung, auf der meine Beine ruhen. Alles ist schwarz.
Gestank und Dunkelheit drängen ein paar unbequeme Fragen in meinen dröhnenden Schädel: Was ist passiert? Wie bin ich hierhergeraten? Wo ist hier?
Und … wer ist ich?
Okernebel: Phantastisches aus Braunschweig (2018)
Hrsg.: Laura Kier, Nele Sickel
& Stephanie Lammers
ISBN: 978-3-746089201
Was lauert in den Tiefen des Heidbergsees?
Wieso gibt es keine Biber im Braunschweiger Zoo?
Und erinnert sich noch jemand an Braunkohlchips?
Neun lokale Autoren haben diese und andere brennende Fragen zum Anlass genommen, einen Blick hinter die Fassaden der Stadt, vor allem aber hinter die Fassaden der Realität zu riskieren. Von dem, was sie dort entdeckt haben, erzählen sie in dieser Anthologie.
Geister im Magniviertel, Hexen im Botanischen Garten …
Dreizehn Geschichten zeichnen das Portrait eines ganz anderen Braunschweigs: mal heiter, mal erschreckend, immer wieder skurril.
Bist du bereit für eine Stadt im Okernebel?
Eigene Kurzgeschichten: Augenblick; Till, we meet again!
Augenblick – Leseprobe
»Der Zeitplan ist heute ganz besonders eng.«
Die abgespannte Stimme zu meiner Linken war mir vertraut genug, um aus dem allgemeinen Stimmengewirr des belebten Marktplatzes herauszustechen, auch wenn ich sie nicht gleich zuordnen konnte. Automatisch blickte ich mich nach dem Sprecher um.
Da ging er, direkt an mir vorbei. Graues, kurz geschnittenes und doch leicht wirres Haar. Fast ordentlich rasiert. Wetterfeste Kleidung, modisch, aber abgetragen und irgendwie immer leicht in Unordnung – ohne dass ich so recht den Finger hätte darauflegen können, woran der Eindruck lag.
Hastig wandte ich mich ab. Ja, natürlich kannte ich den Mann – vom Sehen, wie vermutlich jeder in der Stadt. Es war der Verrückte, der fortwährend mit sich selbst sprach, so als hätte er ein Headset auf und wäre wichtig. Nur war da eben kein Headset.
»Musst du mich derart hetzen? Es ist ja nicht so, als würden wir hier die Welt retten.«
Ich sah noch einmal hin und fixierte im Vorbeigehen sein Ohr. Nein, kein Headset, wirklich nicht.
Ich wollte schon wieder wegschauen und endlich zu meinem Sitzplatz am Brunnen gehen, da nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sofort schnellte mein Blick zurück. Da! Auf seiner Schulter, direkt unter dem Ohr, das ich eben noch angestarrt hatte, regte sich etwas. Ein Schemen oder … vielleicht auch nur ein Teil seiner Jacke oder … Ich kniff die Augen zusammen. Nein, dort saß etwas! Wirklich. Ein … ein Wesen!
Till, we meet again! – Leseprobe
Ich erreiche den Gehweg und will gerade ansetzen, das Wohnhaus zu umrunden, da höre ich wieder Schritte. Ich sehe nach hinten. Die Straße ist leer. Als ich mich umdrehe, steht auf einmal ein Mann vor mir.
Verdattert stoppe ich und sehe ihn an. Komischer Vogel irgendwie. Im schummrigen Dämmerlicht kann ich sein Alter nicht schätzen. Sein Gesicht ist schmal, die Nase markant, die Augen umrahmt von Lachfalten. Es ist kühl und doch trägt er nichts weiter als Jeans und einen dünnen, knallgelben Pullover. Er sieht mich an – nicht so wie man einen Passanten ansieht, eher so wie einen alten Bekannten, den man zwar wiedererkennt, aber spontan einfach nicht einordnen kann. Trotzdem lächelt er, als würde ihn die Begegnung freuen. Als wäre er schon zu lange allein.
Ich sehe diesen Blick und trete einen Schritt beiseite. Der Mann folgt mir mit einer minimalistischen Drehung.
»Entschuldigung«, murmele ich verärgert. Ich kenne ihn definitiv nicht und ich habe keine Lust auf solche Spielchen.
»Was denn?«, fragt der Mann. Seine Stimme ist höher, als ich vermutet hätte, aber nicht unangenehm. »Du hast mir doch nichts getan, oder? Was gäbe es also zu entschuldigen?«