Wo gibt’s was zu lesen? Seit wann? Und worum geht’s?
Romane
Nachbarn (2020)
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-947550-487
Die Erde im Jahr 2320. Giftige Luft und verheerende Stürme haben die Menschheit unter gläserne Kuppeln getrieben. Im Gedränge der Stadt sucht die siebzehnjährige Bren ihre Schwester Cay. Dabei hört sie Gerüchte von Entführungen, einem mysteriösen Club und uralten Legenden. Bren schenkt ihnen keine Beachtung. Doch dann taucht Cay wieder auf – und sie ist nicht mehr dieselbe.
LeseprobeNachbarn – Leseprobe
Eins
Als sie das Wummern hörte, richtete Bren sich auf und sah zur Seite. Neben ihr grub sich silberglänzender Stahl in die schwarze Erde. Viel zu schnell bewegte sich der Pflug in ihre Richtung. Wer zur Hölle hatte … Bren brachte nicht einmal den Gedanken zu Ende. Ehe sie sich’s versah, war sie auf den Beinen und sprintete los. Aufgewirbelter Staub machte ihren Hals trocken und brannte in ihren Augen. Erdbrocken streiften ihre Glieder. Am Rande ihres Sichtfelds funkelte bereits das Silber. Sie kniff die Augen zusammen, gefasst auf Blut und Schmerz, und machte gleichzeitig einen Hechtsprung nach vorn. Für eine Sekunde war da nichts, nur Luft. Dann prallte der Boden gegen ihren Brustkorb, Arme und Beine.
Kurz harrte Bren so aus, der Länge nach hingestreckt, jede Faser ihres Körpers angespannt, aber sie blieb heil. Eine Sekunde, dann zwei. Immer noch Krach, kein Schmerz. Die mörderischen Klingen mussten an ihr vorbeigezogen sein.
Da öffnete sie die Augen und kam wieder auf die Füße. In der Nähe lagen und standen andere Arbeiter, die genau wie sie die Flucht ergriffen hatten. Und der voll automatisierte Pflug wummerte immer noch ohne Ziel und ohne Fahrer über das Kartoffelfeld.
Bren richtete ihren Blick auf die gläserne Kuppelwand, die sich am anderen Ende des Feldes gen Himmel streckte und so die Erde, die Pflanzen und vor allem die Menschen vor der tödlichen Marsatmosphäre schützte. Wenn der Pflug nicht anhielt, würde er dagegen prallen, und Bren bezweifelte, dass das Glas das aushalten würde. Sie mussten etwas tun. Um sie herum starrten Menschen fassungslos auf das eigensinnige Fahrzeug. Niemand war in Bewegung, anscheinend erkannte niemand, was geschehen würde.
Also rannte Bren los. Für ein so schweres Arbeitsgerät hatte der Pflug ein beachtliches Tempo drauf. Die aufgewühlte Erde brach immer wieder unter ihren Füßen weg. Ihre Knöchel bogen sich. Die Staubwolke wurde dichter. Stimmen. Hinter ihr begann jemand zu schreien. Bren strauchelte, raffte sich auf, warf sich weiter vorwärts. Sie hustete heftig, aber sie holte auf.
Der Pflug musste schon zwei Drittel seiner Strecke bis zur Kuppel zurückgelegt haben, da erreichte sie ihn endlich. Sie presste die Zähne zusammen und stürzte sich ein letztes Mal nach vorn. Mit beiden Händen packte sie die Fahrzeugverstrebung. Sie riss die Arme an ihre Brust, zog sich hoch. Ihre Füße fanden Halt auf den Stufen vor der Fahrertür. Dort klammerte Bren sich fest. Mit dem Unterarm rieb sie sich hektisch den Staub aus den Augen, dann blickte sie durch die Scheibe in der Tür ins Fahrzeuginnere.
Der Knopf für die Bremse war der blaue ganz links. Sie musste herankommen. Nur wie? Bren rüttelte an der Tür, fand sie aber wie erwartet verschlossen. Und eine Zugangsberechtigung hatte sie als Pflanzarbeiterin nicht. Ein Blick nach vorn bestätigte ihr, was das stete Rattern der Räder und die lauter werdenden Schreie in ihrem Rücken längst verraten hatten: Keine Zeit mehr für einen Plan B.
Kurzentschlossen löste Bren eine ihrer Hände von der Fahrzeugverstrebung. Sie winkelte den Ellenbogen an und stieß ihn kräftig gegen die Scheibe. Es knackte. Stechender Schmerz fuhr ihren Oberarm hinauf bis in die Schulter. Ihr wurde schwindlig, aber das Glas blieb heil. Also kniff sie Augen und Lippen zusammen und stieß erneut zu. Der Schmerz kehrte umso heftiger zurück und diesmal klirrte es.
Eilig riss Bren die Augen wieder auf, lehnte sich nach vorn, streckte den Arm in die von Scherben gerahmte Öffnung und angelte nach dem blauen Knopf. Sie hatte ihn fast, rutschte ab, streckte sich noch einmal. Dann presste sie mit aller Kraft dagegen.
Der Pflug schnaufte laut. Er zitterte. Seine Räder schrien. Das Wummern erstarb. Ein kräftiger Ruck ging durch das gesamte Fahrzeug. Seine Wucht warf Bren über Bord und zum zweiten Mal an diesem Tage knallte sie der Länge nach auf den Boden.
Stille.
Bren spürte ihren Arm ziehen und pochen, spürte den dumpfen Schmerz, der ankündigte, dass sie sich bei ihrer Landung etliche blaue Flecken zugezogen hatte, spürte die Nässe der Erde in ihrem Gesicht. Sie rollte sich auf die Seite und hörte sich selbst stöhnen, ehe sie ihre Augen wieder aufzwang. Keine zwei Meter von ihr fing sich Scheinwerferlicht in der Oberfläche der Glaskuppel. Sie war so nah, dass Bren die Linien und Muster im roten Sand dahinter ausmachen konnte.
In der Kuppel selbst gab es keine Linien oder Muster zu entdecken. Keine Risse. Sie war heil geblieben.
»Das kann nicht dein Ernst sein. Ich muss arbeiten, Rik!« Bren stand im Büro ihres Supervisors, hielt den professionell verbundenen rechten Arm an ihren Oberkörper gepresst und funkelte ihr Gegenüber auf seinem protzigen Drehstuhl entgeistert an.
»Vergiss es!« Rik schüttelte den Kopf und fuhr sich mit einer Hand durch sein dünnes, blondes Haar. »Der Bruch und die Schnittwunden heilen auch so. Ich genehmige keine teure Operation, um zu richten, was von allein abheilt.«
»So kann ich aber nicht arbeiten.«
»Da sind wir einer Meinung.« Er beugte sich nach vorn und über sein Personal-Pad. Damit rief er einige Daten ab, ehe er wieder zu Bren aufsah. »Du bist drei Monate und zwei Tage hier. Deine Schicht endet ohnehin in einem Monat. Diesmal nimmst du dir einfach ein paar Wochen mehr Urlaub und kehrst dann frisch und erholt zu uns zurück.« Er lächelte. Es war weder aufrichtig noch unfreundlich.
Bren stöhnte frustriert. »Scheiß auf den Urlaub, Rik! Ich komme hier gut klar. Besser als manch anderer und das weißt du. Wir stünden überhaupt nicht hier, wenn nicht irgendein Vollidiot den Pflug falsch abgestellt hätte. Ich habe mir den Arm nicht gebrochen, weil ich dumm oder tollpatschig wäre. Ich habe da unter der Glasglocke einer Menge Leute den Arsch gerettet!«
Rik nickte. »Und wir alle sind dir sehr dankbar dafür. Wolltest du das hören?«
»Nein, verdammt! Ich will die OP. Ich kann nicht auf die Erde zurück, ich brauche das Geld.«
»Du verdienst in der nächsten Schicht wieder welches. Das hier ist kein Rauswurf, du musst nur erst fit werden.« Er lächelte und diesmal glaubte Bren, dass es väterlich aussehen sollte.
»Ihr schuldet mir was«, knurrte sie. »Ich hab das für alle getan, ihr schuldet mir was!«
Darauf änderte sich Riks Miene. Die geduldige Herablassung verschwand und machte einem Anflug von Ärger Platz. Rik richtete sich in seinem Stuhl zu voller Größe auf. Er straffte seine Schultern, legte beide Handflächen vor sich auf der Tischplatte ab und sah Bren direkt in die Augen.
»Du vergisst wohl, dass wir dich genau dafür bezahlen. Der Weltraum ist gefährlich, Liebes, und deshalb muss jeder, ich wiederhole: jeder, der hier oben arbeitet, auch ganz besondere Risiken eingehen. Für nichts anderes verdient ihr euch hier eine goldene Nase, von der jeder Erntehelfer unten in der guten alten Heimat nicht einmal zu träumen wagt. Wir schulden dir gar nichts, Bren. Du hast getan, wofür du bezahlt wirst. Gut gemacht! Jetzt geh nach Hause und komm zurück, wenn du wieder arbeiten kannst.«
Bren holte tief Luft. Ihr war danach, ihren Frust herauszuschreien, doch sie war nicht dumm genug, es tatsächlich zu tun. Sie öffnete den Mund, wollte diskutieren, doch es kam nichts heraus. Die Argumente waren ausgetauscht, die Standpunkte waren klar. Und sie konnte nicht gewinnen.
»Dein letztes Wort?«, fragte sie bloß. Anspannung und Ärger schwangen deutlich in ihrer Stimme mit.
Rik lehnte sich zurück und nickte. »Mein letztes Wort. Es tut mir leid, dass du verletzt wurdest, Bren, aber ich bin froh, dass du getan hast, was du getan hast, und du solltest froh sein, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Wir sehen uns in neun Wochen.«
Einen letzten Moment lang starrte Bren ihren Supervisor zornig an, dann drehte sie sich um und hastete durch die Bürotür nach draußen, ehe sie etwas sagen oder tun konnte, das ihre Rückkehr zum Mars gefährdet hätte. Es half nichts. Auch wenn Rik ein Arsch sein konnte, sie durfte es sich unter keinen Umständen mit ihm verscherzen. Sie brauchte diesen Job.
Wenig später kniete Bren in ihrer Schlafnische und sammelte, so gut es ohne die rechte Hand ging, ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Etwas Unterwäsche und ihr Personal-Pad. Mehr war es nicht. Das alles verschwand in einer kompakten Umhängetasche.
Kaum war das erledigt, rollte Bren sich auf den Rücken. Sie nestelte mit der linken Hand am Reißverschluss ihres Arbeitsoveralls und ärgerte sich darüber, wie furchtbar kompliziert ihre Verletzung selbst die einfachsten Dinge machte. Drei Anläufe brauchte sie, ehe sie den Reißverschluss ganz geöffnet hatte und damit beginnen konnte, sich ungeschickt aus den Stoffschichten zu befreien.
Nach einer Weile fiel der Overall endlich von ihr ab. Sie öffnete ihre Schuhe und schlüpfte gänzlich aus ihrer Kleidung. Dann trat sie den Overall mit den Füßen aus der viel zu engen Schlafkoje und zog umständlich ihre Reisekleidung über. Als sie fertig war, legte Bren sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und kletterte, so vorsichtig es ging, aus ihrer Nische heraus.
Von ihrem Bett aus ging es etwa einen Meter in die Tiefe. Sie ließ die Beine über den Rand baumeln, richtete sich auf – wobei sie den Kopf einziehen musste, um aufrecht in der Nische Platz zu haben – und stieß sich ab. Die Landung war nicht graziös, aber sie gelang. Bren wandte sich um und sah noch einmal die Wand entlang und hinauf, in die mehrere hundert Schlafnischen eingelassen waren. Sie konnte von Glück sagen, dass sie eine der tieferen abbekommen hatte und jetzt nicht auf die Leiter angewiesen war.
Glück … Na ja, was man so Glück nannte … Bren beugte sich nach unten und hob ihren Overall auf. Sie wollte ihn schon in den Wäscheschacht am Ende des Raums werfen, hielt jedoch inne. Er war zu schwer.
Rasch ließ sie ihn wieder auf den Boden fallen und kontrollierte seine Taschen. Tatsächlich: In der linken Beintasche war noch etwas. Sie zog das Ding heraus und es entpuppte sich als handliche Laser-Hacke. Es war das Werkzeug, mit der sie auf dem Feld letzte Steine beseitigt hatte, die dem Pflug entgangen waren. Sie hätte das Ding nach Abschluss ihrer Arbeit wieder abgeben sollen, aber das war in dem Tumult dieses Tages schlicht untergegangen. Jetzt, da sie es gefunden hatte, sollte sie es zu Rik zurückbringen.
Sollte … Bren zögerte. Sie hob den Kopf und vergewisserte sich, dass sie allein auf dem Gang war, dann ließ sie die Laser-Hacke in ihre Umhängetasche gleiten. Der Tag hatte ihr so viel Unglück eingebracht, dass sie jetzt durchaus einen kleinen Bonus einstreichen konnte. Sie musste immerhin Geld verdienen und vielleicht ließ sich auf der Erde eher jemand davon überzeugen, sie trotz ihres Arms einzustellen, wenn sie ihr eigenes Werkzeug mitbrachte. Egal wie Rik dazu stand: Wenigstens das war man ihr hier schuldig.
Die Türen des Transport-Rovers schlossen sich zischend. Bren festigte den Griff um den Riemen ihrer Tasche und blickte hinauf zu dem Kuppeldach über ihr. Irgendwo da oben musste sie sein, die Erde. Doch die umliegenden Scheinwerfer leuchteten zu hell, um im Himmel irgendetwas anderes auszumachen als Schwärze.
Bren richtete ihre Aufmerksamkeit auf die graue Linie, die sich einmal von links nach rechts komplett über den Himmel zog. Nach über einem Jahr des Pendelns zwischen Mars und Erde hatte sie sich immer noch nicht an den Anblick gewöhnt. Kuppeln, die aufklappen konnten, machten ihr Angst. Natürlich waren sie notwendig, das war ihr klar. Wäre die Kuppel dauerhaft verschlossen, hätte das Spaceshuttle, das nun auf sie wartete, schwerlich landen und wieder starten können.
Trotzdem war es unheimlich.
Langsam setzte Bren sich in Bewegung. Trockener Stein knarzte leise unter ihren Füßen. Vor ihr hatten ihre Mitreisenden bereits die Türen des Shuttles erreicht und kletterten einer nach dem anderen in sein Inneres. Bren wusste, sie sollte sich beeilen, wenn sie noch einen der unteren Schlafplätze abbekommen wollte. Dennoch behielt sie ihr Tempo bei und wandte den Kopf im Laufen nach links, wo sie das ferne Licht der ersten Stadt auf dem roten Planeten erahnen konnte. Tradition war Tradition.
Sie schaute dem Lichtfleck entgegen und flüsterte: »Ich komme wieder. Noch drei Schichten. Dann bringe ich Cay mit und wir erobern dich!«
Der Lichtfleck nahm ihre Worte wie immer kommentarlos entgegen. Bren lächelte. Dann wandte sie den Blick wieder nach vorn und eilte zum Shuttle.
Ausgestreckt auf ihrer Liege in der wenig beliebten zugigen Ecke direkt neben der Toilette starrte Bren auf ihr Personal-Pad. Jeden Moment war es so weit. Sie würden endlich in Empfangsreichweite kommen. Der äußerste Deep-Space-Satellit war nicht mehr weit von ihrer Position entfernt und sobald sie nah genug herangeflogen waren, würde sie endlich wieder von Cay hören.
Es hatte ein paar Tage gedauert, aber nun, da sie den Weg zur Erde bereits halb hinter sich gebracht hatten, hatte Bren ihre schlechte Laune abgelegt. Ja, sie waren in finanziellen Schwierigkeiten. Ja, Bren würde zusehen müssen, so schnell wie möglich einen Übergangsjob zu bekommen. Doch dafür würde sie Cay wiedersehen und ganze fünf Wochen mit ihr haben. So lange hatte Bren ihre kleine Schwester nicht mehr an einem Stück gesehen, seit sie den Job auf den Marsfeldern angenommen hatte.
Drei kurze Pieptöne kündeten davon, dass das P-Pad Kontakt zum irdischen Mailsystem aufgenommen hatte. Aufgeregt betätigte Bren das Nachrichtensymbol auf dem Bildschirm. Dreizehn ungelesene Nachrichten. Alle von Cay. Bren grinste. Bevor sie sich aber an die Lektüre machte, schickte sie zuerst ihre eigene Nachricht ab:
Besorg Limonade! Schmeiß sämtliche ätzenden Typen aus der Wohnung! In einer Woche bin ich zu Hause, Schwesterchen!
Senden. Schon öffnete Bren die erste Nachricht. Cay hatte sie wenige Stunden nach Brens letztem Aufbruch geschrieben.
Es ist leer hier ohne dich, stand darin. Es ist jedes Mal leer hier ohne dich und diesmal bin ich kurz davor, Figuren an die Wand zu malen, damit ich nicht so allein bin. Oder technische Zeichnungen, wie wär’s damit? Wenn du wiederkommst, habe ich die neue Marsskyline an unsere Wände skizziert, und wenn ich mich dann endlich bewerben kann, laden wir die ganzen Planungstypen zu uns in die Wohnung ein, damit sie meine Arbeit bestaunen können. Das wär doch mal originell. – Komm ganz schnell wieder, sonst mach ich das wirklich!
Mit einem wehmütigen Lächeln schloss Bren die Nachricht und öffnete die nächste.
Je mehr Zeit verstrich, desto gefasster wurden Cays Botschaften. Bald ließen sie erkennen, wie viel Freude Cay in ihrem Alltag fand. Ihr Ingenieursstudium lief wie erwartet ausgezeichnet und auch der Nebenjob als Schreibkraft sorgte, wenn schon nicht für Erfüllung, offensichtlich doch immer wieder für Erheiterung. Keine Dramen, keine suspekten Männergeschichten, alles friedlich.
Nachdem Bren die letzte Nachricht geschlossen hatte, schaute sie hoffnungsvoll auf den Posteingang und erwartete halb, dort schon die erste jubelnde Reaktion auf ihre verfrühte Heimkehr vorzufinden. Aber der Posteingang blieb leer.
Sei nicht dumm!, ermahnte sie sich. Noch brauchten die Daten eine ganze Weile, um von hier zur Erde und wieder zurück zu wandern. Cay würde antworten. Mit diesem Gedanken zwang Bren sich, das P-Pad auszumachen und ein wenig zu schlafen. Wenn sie nur lange genug schlief, würde beim Aufwachen sicher eine Nachricht auf sie warten.
Zwei
Bren übersprang immer mehrere Stufen auf einmal, während sie die Treppe zur Oberfläche hinaufeilte. Oben angelangt, gönnte sie sich nicht wie sonst eine Minute, um an das SUB-Zeichen gelehnt zu verweilen und den Anblick der vertrauten Stadtkulisse unter der himmelhohen Kuppel zu genießen. Stattdessen eilte sie weiter und ließ die aus der Untergrundbahn strömenden Menschenmassen rasch hinter sich.
Im Schatten der alten Betonklötze, die Bren ihr Viertel nannte, tummelten sich noch mehr Menschen und während sich Bren sonst über die vertraute Kulisse freute, ärgerte sie sich heute nur darüber, wie viele Passanten ihr gedankenlos in den Weg trampelten. Sie musste nach Hause!
Cay hatte sich nicht gemeldet. In der gesamten letzten Woche kein Wort, kein Ton von ihr. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre kleine Schwester war vielleicht in Schwierigkeiten, hatte schrecklichen Liebeskummer oder sonst etwas und Bren war nicht da. Das durfte nicht sein.
Also drängte sie sich an Leuten vorbei, stieß sie zur Seite, ignorierte böse Blicke und garstige Kommentare, während sie auf den Eingang ihres Wohnblocks zusteuerte. Es war ein uralter Betonklotz, rissig, mit doppelt verglasten Fenstern in brüchigen Plastikrahmen und einem Skelett aus Stahlstreben, zusammengehalten nur noch von verblassten Graffiti, klebrigem Müll und dem Starrsinn des Denkmalschutzes. Aber er stand noch. Bren lief schneller.
Endlich gelangte sie zur Tür. Sie kickte einen leeren Instant-Food-Container beiseite, dann hielt sie – so gut der Verband um den gebrochenen Arm es zuließ – ihr Handgelenk an den Sensor. Das Gerät erfasste ihren ID-Chip, erkannte sie als Bren und ließ sie ein.
Drinnen war es menschenleer. Erleichtert, nun endlich ungestört voranzukommen, spurtete Bren den Korridor entlang, vorbei an dem seit Monaten blockierten Fahrstuhl, und die sieben Treppen hinauf zu ihrer Wohnung. Sie keuchte, als sie die oberste Stufe erklomm, und krampfte die unverletzte Hand um ihre Tasche, die ihr längst zu schwer geworden war. Trotzdem hielt sie nicht inne. Sie rannte zur dritten Tür, ließ abermals ihren ID-Chip scannen und stürzte in die Wohnung.
Es sah alles aus wie immer. Brens Bett war noch so ordentlich gemacht wie bei ihrer Abreise. Nur ein paar Klamotten hatten sich inzwischen darauf angesammelt. Cays Bett auf der anderen Seite war zerwühlt und sah aus, als wäre es vor Kurzem erst verlassen worden. Einer der Sessel war nah ans Fenster gerückt und etwas Geschirr stand auf der Fensterbank. Daneben lag Cays Personal-Pad. Keine Geräusche aus der Kochnische oder dem Bad.
»Cay?«
Keine Antwort.
Bren ging zum Fenster und betätigte den Start-Button des verwaisten P-Pads. Der Bildschirm erwachte flackernd zum Leben und zeigte neben dem tadelnden Akku-leer-Symbol die übliche Aufforderung, für weiteren Zugriff den ID-Chip vor den Scanner zu halten. Links oben war das Datum eingeblendet: 8. Mai 2320. Rechts daneben zeigte ein kleiner Briefumschlag an, dass es einundzwanzig neue Nachrichten zu lesen gab. Sonst war da nichts. Kein Eingabefeld, keine Abwesenheitsnotiz. Nichts.
Mit einem frustrierten Knurren schaltete Bren das P-Pad aus, warf ihre Tasche auf den Boden und schaute sich im Rest der Wohnung um. Aber auch hier nirgendwo eine Nachricht. Das wenige Essen im Kühlschrank war noch gut, kein Schimmel auf dem benutzt zurückgelassenen Geschirr. So lange konnte Cay noch nicht weg sein. Wäre da nicht die wochenlange Funkstille gewesen, Bren hätte geglaubt, Cay wäre an diesem Tag einfach nur überhastet zur Arbeit aufgebrochen und hätte ihr P-Pad in der Wohnung vergessen. Aber so? Sie musste sie suchen.
Nate!, war das Erste, was Bren in den Sinn kam. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ sie die Wohnung, eilte die Treppen hinab ins Erdgeschoss, rannte über den Flur und klopfte an die Tür an seinem Ende.
»Nate!«, rief sie, während sich ihr Klopfen in kräftige Faustschläge verwandelte. »Nate! Lass mich rein, verdammt!«
Die Tür ging auf und der hochgewachsene, drahtige Dealer, der dahinter zum Vorschein kam, bedachte Bren mit einem amüsierten Lächeln. »Ah, Madame Wachhund, so früh wieder zurück? Ich dachte, wir würden noch etwas länger von dir verschont bleiben.«
»Wo ist Cay?« Bren machte einen ungeduldigen Schritt auf ihn zu, sodass sie nun beinahe Brust an Brust standen.
»Wenn du es nicht weißt …«, brummte Nate von oben herab.
»Lass die Spielchen! Ist sie bei dir?«
»Wonach sieht’s denn aus?«
Damit trat er einen Schritt beiseite und verschaffte Bren freie Sicht auf seine alte Schlafcouch, den niedrigen Tisch, auf dem sich dreckiges Geschirr stapelte, die riesige Leinwand, die die ganze rechte Zimmerseite einnahm und die Berge von Kisten und anderen Behältnissen in den Zimmerecken, um deren Inhalt Bren sich lieber keine Gedanken machen wollte. Cay war nirgendwo zu sehen.
»Okay, sie ist nicht hier«, räumte sie ein und richtete ihre Augen wieder auf Nate. »Aber hast du sie gesehen? Habt ihr wieder was miteinander?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wüsste echt nicht, was dich das anginge.«
»Nate, verdammt, das ist kein Spiel! Wir reden hier von Cay! Sie ist weg und ich muss wissen, wo sie ist, hörst du?«
»Ja, ich höre.« Nate breitete seine Arme in einer beschwichtigenden Geste aus. »Und ich denke, du solltest erst mal wieder runterkommen. Ich weiß nicht, ob du es da oben auf dem Titan mitbekommen hast …«
»Mars, du Supergenie! Eins ist ein Mond, das andere ein Planet.«
»Was auch immer … Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber Cay ist sechzehn geworden, während du unterwegs warst. Sie ist jetzt erwachsen, Madame Wachhund. Volljährig. Genau wie du und ich. Und nebenbei bemerkt kaum ein Jahr jünger als du, oder? Du solltest vielleicht aufhören, dich wie ihre Mutter aufzuführen, und anfangen, zu akzeptieren, dass Cay ihr eigenes Leben lebt und dabei weder dir noch mir noch sonst wem Rechenschaft schuldig ist. Sie ist weg? Okay, ihr Ding. Sie taucht schon wieder auf.«
Bren starrte Nate unverändert an. Wieder machte sie einen Schritt auf ihn zu, drang bewusst in seine persönliche Sphäre ein. »Es geht hier nicht um Rechenschaft. Es geht um die Frage, ob es ihr gut geht. Sie ist noch nie abgehauen, ohne sich zu melden. Ist etwas passiert? Nimmt sie irgendwas? Hast du ihr was gegeben? Habt ihr wieder mal Schluss gemacht?«
»Das geht dich …«
»Verdammt! Nate, bitte!«
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann sah er sie frustriert an. »Meinst du wirklich, ihr ist etwas passiert?«
»Ja! Nein. Ich weiß es nicht. Genau deshalb muss ich sie finden. Nate, bitte!«
»Sie war nicht hier«, gab er endlich zu. »Sie will nichts mehr von mir wissen, wie du dich vielleicht erinnerst. Daran hat sich nichts geändert. Ich hab keine Ahnung, wo sie ist, ehrlich.«
Bren meinte, Bedauern aus seiner Stimme herauszuhören, und ihr Beschützerinstinkt drängte sie, ihm noch einmal einzubläuen, dass er sich von ihrer Schwester fernhalten sollte. Aber das hier war definitiv nicht der richtige Moment dafür.
» Ich danke dir«, rang sie sich stattdessen ab. »Falls sie auftaucht, sag mir bitte Bescheid, ja?«
»Wenn Cay es so will, sicher.«
»Nicht nur … Ach, was auch immer.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand aus Nates Wohnung. »Man sieht sich.«
»Nur, falls ich es nicht vermeiden kann«, nuschelte Nate, bevor er die Tür hinter ihr ins Schloss gleiten ließ.
Bren blieb allein auf dem Korridor zurück. Sie sah zu den Reihen verschlossener Türen, die sich zu beiden Seiten den Gang hinunter zogen. Das hier war sicher nicht die liebenswerteste oder aufmerksamste Nachbarschaft, die man sich vorstellen konnte, aber es waren die Menschen, die tagein, tagaus mit Cay unter einem Dach lebten. Da musste doch irgendjemand wissen, was mit ihr war. Zumindest wissen, wann sie verschwunden war. Vielleicht würde das helfen. Vielleicht wusste ja sogar jemand mehr.
Mit diesen Gedanken machte Bren sich daran, an eine Tür nach der anderen zu klopfen. Obwohl bereits früher Abend war und die meisten Bewohner schon seit einiger Zeit Feierabend haben mussten, machte keiner auf. Entweder sie waren tatsächlich aus oder sie weigerten sich schlicht, ihre Türen zu öffnen. So oder so: Als Bren das Ende des Korridors erreicht hatte, war sie mehr als nur ein bisschen frustriert. Trotzdem machte sie weiter. Sie nahm sich ein Stockwerk nach dem anderen vor und ließ keine Tür aus.
Die erste, die sich ihr dann öffnete, befand sich im dritten Stock. Eine dunkelhaarige Frau in mittlerem Alter sah heraus. An ihr Bein gepresst stand ein kleines Mädchen und schaute aus großen, gleichgültigen Augen zu Bren auf. Bren kannte keine der beiden
»Ja?«, fragte die Frau abweisend.
»Hallo, entschuldigen Sie. Ich suche meine Schwester. Sie heißt Cay und wohnt im siebten Stock. Ein bisschen größer als ich, zierlich, blond … Sie ist nicht zu Hause und ich mache mir Sorgen. Haben Sie sich vielleicht in letzter Zeit gesehen?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich kenne deine Schwester nicht«, meinte sie nur und betätigte den Türschalter.
»Aber …«, begann Bren. Doch da hatte sich die Tür bereits geschlossen.
Bren seufzte frustriert. Sie wandte sich von der Tür ab und mit grimmiger Entschlossenheit abermals den nächsten zu.
Viel ergab ihre Suche auch in den nächsten beiden Etagen nicht. Gelegentlich öffnete jemand die Tür, aber kaum einer kannte Cay, und wer sie kannte, konnte sich nicht erinnern, ob und wann er sie zuletzt gesehen hatte. Bren wollte die Leute schütteln für so viel Gleichgültigkeit. Doch sie beherrschte sich und beschränkte sich stets auf ein verbissenes Danke, ehe sie ihren Weg fortsetzte.
Es war die letzte Tür im sechsten Stock, die schließlich noch einmal vor ihr aufglitt.
Aus einem kitschig eingerichteten Zimmerchen sah die alte Mape zu Bren auf und lächelte sie an. »Ah, schau, das Mädchen aus der Sieben«, sagte sie. »Besuchst uns auch wieder mal, hm? Hab dich lange nicht gesehen.« Ihr neugieriger Blick glitt an Bren hinab und nahm jeden Zentimeter genau unter die Lupe: den zerzausten Pferdeschwanz, die ehemals frischen Kleider, den gebrochenen Arm, alles.
»Arbeit«, entgegnete Bren und zuckte die Schultern. »Haben Sie Cay gesehen? Sie ist nicht zu Hause und ich erreiche sie nicht …«
»Cay ist weg?« Die alte Mape machte große Augen. »Armes Ding. Ich hab sie neulich noch gesehen …«
»Was, wirklich? Hat sie gesagt, wohin sie will?«
Mape schüttelte den Kopf: »Nein. Ich weiß nicht … nein.«
»Wissen Sie noch, wann Sie sie gesehen haben?«
Wieder ein Kopfschütteln. Enttäuscht ließ Bren die Schultern sinken.
»Es ist schade um all die jungen Dinger«, fuhr Mape fort. »Verschwinden ja immer wieder welche in letzter Zeit.«
»Was?«
»Ja, leider. Es ist eine ganz und gar merkwürdige Sache, wirklich.«
»Wieso hat mir davon keiner was gesagt? Ermitteln die Behörden?«
Abermals schüttelte Mape den Kopf. »Die meisten kriegen’s gar nicht mit. In den Nachrichten hört man nichts davon und hier achtet ja niemand auf den anderen. Keiner hat Zeit. Ich wette, als du im Haus nach deiner Schwester gefragt hast, wussten die meisten nicht einmal, wer sie ist, stimmt’s?«
Bren nickte frustriert.
»Siehst du? Wie sollten sie da merken, dass sie weg ist? Aber es fehlen Leute. Nicht nur hier aus dem Haus, auch aus den umliegenden. Ich habe Zeit. Ich höre Dinge.«
»Vielleicht sind die Leute einfach weggezogen? Ich meine, wer würde das nicht, wenn er es könnte, oder? Ist nicht die beste Gegend hier …«
»Wenn du meinst«, entgegnete Mape. »Aber was ist mit deiner Schwester? Ist die auch weggezogen, hm?«
»Nein, sie …«
»Siehst du?«
»Ach, verdammt! Haben Sie irgendwas gehört? Von den anderen Leuten? Wo sie sein könnten? Sind hier irgendwelche Gangs aktiv geworden oder so?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Mape wiegte ihr faltiges Gesicht bedächtig von einer Seite zur anderen. »Ich glaube auch nicht, dass sie beraubt wurden oder etwas in der Art, falls du das fürchtest. Nicht diese Leute. Kaum einer darunter, der der Typ für Schwierigkeiten gewesen wäre. Nenn es Intuition einer alten Frau, aber ich glaube, es geht etwas anderes vor. Etwas Fremdes. Etwas Altes. Kein Fall, den die Behörden klären könnten.«
Darauf wusste Bren keine Antwort. Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Bis zu diesem Moment hatte sie wirklich geglaubt, dass die Alte ihr weiterhelfen konnte. Dass sie etwas wusste. Und nun hatte sie mit ihren letzten Worten offenbart, dass nichts weiter in ihr vorging als die senile Paranoia einer längst in die Jahre gekommenen Frau, die hin und wieder etwas Beachtung und jemanden zum Zuhören brauchte. Einer netten Frau, keine Frage, aber das änderte nichts.
Die alte Mape schenkte Bren ein trauriges Lächeln. »Ist ein gutes Mädchen, deine Schwester. Immer höflich. Ich hoffe, du findest sie wieder.«
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Die Konturen der Gestalt werden kantiger, je genauer du sie erkennen kannst. Und da liegt etwas Schwarzes auf den Schultern des Riesen. Sind das … Kann das sein? Solarkollektoren? Du hast seit Ewigkeiten keine mehr gesehen. Zumindest keine, die noch intakt waren.
Wenn du die in die Finger bekommen könntest. Nur einen einzigen …
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Ach was, ihr zögert wegen meines Aussehens? Hände und Füße ohne einen Körper dazwischen findet ihr gruselig? Da kann ich euch beruhigen. Ich bin ein Mann. Vollständig mit Kopf und Brust, Beinen und allem, was ihr euch sonst noch von einem Mann wünschen könnt. Und gutaussehend bin ich. Ihr macht euch keine Vorstellung. Gestählt von der Arbeit, geküsst von der Sonne, weich gestreichelt vom Frühlingswind. Ich bin nur eben – Hände und Füße ausgenommen – unsichtbar. Also werdet ihr mir, was mein strahlend schönes Äußeres angeht, einfach vertrauen müssen.
Kommt! Setzt euch! Alle da? Dann willkommen! Ich bin Demba, und das hier ist meine Geschichte.
Na ja, eigentlich stimmt das nicht so ganz. Man sollte eine gute Erzählung immer mit der Wahrheit beginnen, ist es nicht so? Na gut, von vorn also: Ich bin Demba, und das hier ist die Geschichte von meiner Freundin Aminata, der Yumboe.
Jetzt schaut nicht so allwissend! Es gibt keinen Grund, mir etwas vorzumachen. Ich weiß genau, dass die meisten von euch noch nie von einer Yumboe gehört haben. Ihr kennt so wenig von der Welt. Aber schnell mit euren Smartphones seid ihr, das muss man euch lassen. Die Hälfte von euch hat Yumboe schon gesucht, ist es nicht so?
Lasst mich raten, was da steht: Feengeister aus dem Senegal, klein, mit perlweißer Haut und Silberhaar. Binden sich an menschliche Familien und heulen, wenn da ein Angehöriger stirbt. Nicht bösartig, aber spitzbübisch. Klauen Getreide und lassen sich bei ihren großen Festen auf den stillen Hügeln von unsichtbaren Dienern umsorgen, von denen man nur Hände und Füße sehen kann.
Liege ich richtig?
Ha! Wusste ich es doch. Alles Halbwissen. Wir wollen bei der Wahrheit bleiben, also legt die Telefone weg, und hört gut zu!
Alien Contagium: Erstkontakt-Geschichten (2022)
Hrsg.: Christoph Grimm
ISBN: 978-3-946348-33-7
Kurzgeschichte: Werdendes Leben
LeseprobeWerdendes Leben – Leseprobe
Ein schrilles Pfeifen färbte die Kontrollkonsole orange und das blinkende Warnlämpchen plärrte so laut, dass Rae zusammenzuckte. Nein, andersherum! So oder so fand Rae sich verschreckt vor ihren Schaltelementen wieder. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und musste erst einen tiefen Atemzug nehmen, ehe es ihr gelang, die Dinge in die ihnen vorbestimmte Ordnung zu bringen.
Kollisionsalarm. Das war es, was die Sirene ihr entgegenschrie. Und die Lampe zeigte ungewöhnlich starken Treibstoffverlust in der linken Steuergondel an. Man musste nicht Holmes heißen, um zu schlussfolgern, dass die Kollision mit dem, was auch immer es war, einen Treibstofftank leck geschlagen hatte.
»Verfluchte Scheiße«, murmelte Rae und setzte alles daran, die Panik niederzukämpfen. Ihre Hände flogen über die Treibstoffkontrollen. »Ich musste ja auch auf deinen Discount-Preis reinfallen, du dämlicher Schrotthaufen! Von wegen neuwertiger Kollisionsschild …«
Die Kontrollen halfen nicht weiter. Rae fand keine Einstellung, mit der sich das Leck hätte schließen lassen und ehe sie Zeit hatte, einen Ausflug auf die Schiffshülle auch nur in Erwägung zu ziehen, war der Tank bereits leer. Sie konnte nicht mehr tun als fluchend auf den Ersatztank umzustellen und zu berechnen, wie weit das Schiff damit kommen würde. Die Antwort war simpel: Nicht weit genug.
Während sie ihre Optionen durchging, bewegte sich etwas am Rande ihres Blickfeldes. Rae fuhr herum. Das Cockpit war leer. Kein Mensch außer ihr an Bord. Bewegungen konnten nur bedeuten, dass das Schiff nun auch noch in seinem Inneren auseinander fiel.
Macht und Wort: Die Macht der Sprache – Sprache der Macht (2021)
Hrsg.: Hans Jürgen Kugler & René Moreau
Hirnkost Verlag
ISBN: 978-3949452192
Kurzgeschichte: Justiti.b21
Justiti.b21 – Leseprobe
06.09.2049, 12:30:01 Uhr.
Aufnahmeeinheit Justiti.b 21
Neues Datenpaket.
Datei 1. Bundeszentralregisterauszug. Drei Einträge.
Hausfriedensbruch in Kiel. 24.01.2045. 20 Tagessätze à 10 Euro, ermittelt durch Justiti.a 13.
Körperverletzung in Hamburg. 17.01.2047. 120 Tagessätze à 10 Euro, ermittelt durch Justiti.a 27.
Wohnungseinbruchsdiebstahl in Bonn. 04.03.2048. 1 Jahr 2 Monate Freiheitsstrafe, ermittelt durch Justiti.a 03. Strafe ausgesetzt zur Bewährung. Voraussichtliches Bewährungsende 15.04.2051.
Auf dem Display drehte sich ein Sanduhr-Icon in widerlicher Gleichmäßigkeit. Pascal-Maxim wusste, dass er zu warten hatte, bis das Bild durch ein Mikrofonsymbol ersetzt wurde. Erst dann durfte er reden, erst dann würde das Gerät ihm zuhören. So waren die Regeln. Unmittelbar danach würde auf dem Display der gefürchtete Schuldspruch erscheinen.
Das war schon alles, der ganze spektakuläre RichterBot. Ein grauer Kasten, ein Display, darauf eine Sanduhr. Unfassbar, dass von diesem Ding seine komplette Zukunft abhängen sollte.
Open the bottle: Die Flasche der Pandora (2021)
Hrsg.: Kathrin Fuhrmann & Jessie Weber
ISBN: 978-3-00-070056-9
Kurzgeschichte: Holla und der Heidelbär
LeseprobeHolla und der Heidelbär – Leseprobe
Als sich der Ausgang mit einem vollmundigen Ploppen auftat, zögerte Holla keine Sekunde. Sie streckte die Finger aus, krallte sich ans Glas, zwängte sich hinaus.
Plopp.
Da stand sie mit den bloßen Füßen auf einem weichen Teppich. Im Feuerschein schaute sie an sich herab, strich den grünen Rock glatt, sein fester Stoff gewebt aus langen Blättern, verziert mit dunkelroten Beeren und Büscheln kleiner weißer Blüten. War das so richtig? Ja, sie glaubte schon. So sah sie aus, wenn sie nicht bloß floss und schwappte. Nur der fransige Riss im Rock, die blutige Schramme an ihrer Wade – die hätten nicht sein sollen.
Holla blickte zurück. Ihr gläsernes Gefängnis wirkte trügerisch harmlos, wie es da lag und leise gurgelnd schäumte. Wie viel Zeit hatte sie darin verbracht? Waren es Wochen oder Monate gewesen, in denen es keine andere Ablenkung gegeben hatte, als dem Limetterling Blubberblasen gegen die zarten Flügel zu pusten oder dem Pfirsittich das Gefieder zu zerzausen? Hatte es überhaupt eine Zeit davor gegeben?
Das geheime Sanatorium: Phantastische Geschichten (2021)
Hrsg.: Nadine Muriel & Rainer Wüst
Lindwurm Verlag
ISBN: 978-3-948695-32-3
Kurzgeschichte: Ein Bild von einem Mann
Ein Bild von einem Mann – Leseprobe
Ein Blick genügte und Colette konnte mit Sicherheit sagen, dass ihre Kammer in der neuen Unterkunft noch nie die Hand einer Wunschfee gesehen hatte. Jedenfalls keiner guten. Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, alles 0815-Marke-Billig-Birke. Sogar das Landschaftsfoto an der Wand steckte im Birkenrahmen und war vermutlich kein anderes als das Werbefoto, mit dem das Einrichtungshaus den Rahmen bestückt hatte. Kein besonderes Etwas, kein Flair, nicht einmal gemusterte Kleiderbügel. Wäre Colette noch im Dienst, sie hätte erst einmal ein bisschen Farbe an die Wände gebracht, ein paar Blumen aufgestellt und vielleicht ein Schälchen mit Süßigkeiten. Allerdings war sie nicht im Dienst. Durfte nicht. Konnte nicht … Sie war zu Gast. Auf unbestimmte Zeit. Und wenn dieser Bolze ein ähnlich guter Therapeut war wie seine Heinzelmännchen Inneneinrichter, dann kam sie hier gewiss nie wieder raus.
Colette seufzte und ließ sich auf ihr neues, viel zu weiches Bett fallen. Ein paar Staubkörner stoben auf und tanzten träge im Licht der nackten Deckenlampe. Kein Geräusch im Raum, kein Geruch außer kitzelndem Staub und muffiger Bergfeuchte, nicht einmal ein Luftzug zu spüren.
Naja. Wenn man es so betrachtete, war das immerhin ein Fortschritt gegenüber ihrer letzten Residenz. In den Katakomben von Paris war es nie still gewesen, nicht einmal windstill. Womöglich würde sie hier wenigstens gelegentlich dazu kommen, ihre eigenen Gedanken zu hören. Oder mal eine Nacht durchzuschlafen. Dazu bräuchte sie bloß ein wenig Zeit für sich und eine bequemere Matratze. Wenn sie doch nur die Kraft gehabt hätte, eine herzuzaubern. Sie war so unendlich müde.
Colette schloss die brennenden Augen. Sie atmete tief ein und langsam aus, wie Dr. Poulier sie angeleitet hatte.
Ein.
Und auuuus.
Ein.
Und auuuus.
Ein.
Und –
Es klopfte.
War ja klar.
»Komme.« Colette stemmte sich hoch, strauchelte, probierte es noch mal, schaffte es auf die Füße, schlurfte zur Tür und öffnete sie.
Ein hagerer junger Mann im Nadelstreifenanzug schaute sie erstaunt an. Dicht neben seinem linken Ohr schwebte ein faustgroßer blauweißer Feuerball, der sein ohnehin blasses Gesicht unvorteilhaft erhellte.
The S-Files: Die Succubus Akten (2021)
Hrsg.: Sascha Eichelberg
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-068-5
Kurzgeschichte: Succubussmile
Succubussmile – Leseprobe
»Hier«, sagte Mutter und hielt mir einen Lippenstift vor die Nase. »Versteck damit dein Succubussmile, ehe du zur Beichte gehst.«
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das kühle Metall unserer Zimmertür, unterdrückte dabei ein Stöhnen. Am liebsten hätte ich gebockt wie früher als junges Mädchen. Nur hatten wir diese spezielle Diskussion mittlerweile zu oft geführt, als dass ich noch Spaß daran hätte haben können. Also nahm ich das blöde Ding einfach.
»Leihst du mir wenigstens deine Mirror-App zum Auftragen?«
Mutter verschränkte die Arme. »Wozu? Du willst doch nur noch mal sehen, wie voll und rot sie sind, ehe du sie verdeckst. Oder willst du kontrollieren, ob deine Wimpern immer noch so dicht sind? Ob das goldene Haar noch glänzt, hm?«
»Jetzt hör aber auf. Ich will es richtig machen, sonst nichts«
»Du kriegst das schon hin. Kannst doch sonst immer alles allein.«
Wie ich sagte: Diskussionen waren völlig sinnlos. Also öffnete ich den Lippenstift, fand darin ein kränkliches Beige und schmierte mir das auf die Lippen. So entstellt lächelte ich Mutter an, bleckte die Zähne.
»Besser?«
»Kaum. Schlag diese verdammten Hexenaugen nieder, wenn du draußen bist, und lass die Haare unter der Kapuze.«
Wenn sie gewusst hätte … Ich seufzte bloß. »Schon klar. Wie immer.«
»Und bleib nicht so lange!«
»Nur so lange, wie der Herr Pfarrer mich dort haben will, Mutter.«
Ich wandte mich um, betätigte das Türterminal und schlüpfte hinaus, ehe ich mir einen weiteren Insult von ihr einfangen konnte.
Kaum war ich auf der Straße, sah ich die hohen Mauern der Cathedral vor mir aufragen. Grau wie die Häuser links und rechts, nur viel höher und mit einem großen, neongelb blinkenden Kreuz anstelle der unaufgeregten Werbetafeln in Pastelltönen, die auf diese Drogerie und jenes Restaurant hinwiesen. Eine Drohne summte leise über meinen Kopf hinweg. Zwei Männer und eine Frau in beigen Arbeitsoveralls warfen mir im Vorbeigehen neugierige Blicke zu. Ich schlug die Kapuze über das allzu blonde Haar und senkte den Blick auf den Asphalt zu meinen Füßen. So ungern ich tat, was Mutter mir auftrug, gerade heute war es keine gute Idee, aufzufallen.
Der Weg kam mir länger vor als sonst. Wieder und wieder spielte ich in Gedanken den Streit durch, den ich gerade vermieden hatte. Hörte mir an, wie verdorben ich doch wäre. Warf Mutter an den Kopf, dass – wäre ich wirklich ein Dämon, wie sie sagte – sie sich lieber fragen sollte, mit wem sie da herumgehurt hatte, um mich zu zeugen. Bekam darauf zu hören, dass ich die Hure sei, nicht sie.
Meine Handflächen wurden feucht. Ich ballte die Fäuste, versenkte sie so tief in den Manteltaschen, dass meine Knöchel über die groben Salzkörner kratzten, die sich da im Stoff verfangen hatten. Vielleicht hatte Mutter recht. Womöglich war ich verdorben, unrein. Aber dafür war ich wenigstens jemand. Mehr als ein betender, psalmenleiernder Schatten. Und ich wollte doch nichts Böses. Ich wollte nur endlich wissen, wie es war.
Singularitätsebenen: 2021 Collection of Science Fiction Stories (2021)
Hrsg.: Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Kurzgeschichte: Neu
LeseprobeNeu – Leseprobe
Wenn sie heute an diesen Tag zurückdenkt, redet Lilly sich ein, da sei ein Riss in ihrer Maske gewesen. Haarfein irgendwo zwischen den dichten Fasern. Sie hatte die Knallgelbe getragen, die, die ein Smiley-Lachen über ihre gut verborgenen Lippen malt. Vielleicht hatte das aufgedruckte Lachen den Riss irgendwie verdeckt. Hatte sie nichtsahnend ungefilterte Stadtluft einatmen lassen. Hatte sie mit trockenem Sommerstaub und Smog und fremden Keimen völlig verrückt gemacht.
So musste es gewesen sein. Musste einfach. Gemerkt hatte Lilly es an jenem Vormittag allerdings nicht.
Wenn die Welt klein wird und bedrohlich: Schreiben aus der Corona-Isolation (2020)
Hrsg.: Felix Woitkowski
Blitz-Verlag
Kurzgeschichte: Plitsch
LeseprobePlitsch – Leseprobe
»Ach, komm! Immerhin keine Ausgangssperren.«
(Du sagst nicht noch, doch das Wort schwappt uns beiden in die Ohren.)
Mir wird kalt, also gleite ich tiefer, versinke bis zum Hals im Wasser. Der Lavendelschaum kitzelt meine Nase wie Gischt.
Ich niese.
»Alles okay?«, fragst du.
»Ja, klar. Keine Sorge. Ich bin nicht krank oder so. Werde ich auch nicht, solange ich hier drinnen bleibe.«
Der Handylautsprecher verzerrt dein Seufzen zu einem scharfen Rauschen. »Mann, ich hab genug von dem ganzen Thema. Scheißkrankheit! Lass uns über etwas anderes reden, ja?«
»Ja, bitte«, sage ich.
Dann schweigen wir.
»Weißt du, dass ich deine Stimme liebe?«, fragst du.
Ich recke den Hals, schaue auf das Display. Wir telefonieren jetzt seit 37 Minuten und 21 Sekunden.
»Ich glaub schon«, sage ich und lächle wehmütig.
»Erzähl mir was!«
Himmel und Erde: Die Bilder Tatjana Freys (2020)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-891-3
Kurzgeschichten: Kuckuck; Im grünen Kleid
Leseprobe »Kuckuck«Kuckuck – Leseprobe
»Ich glaube, irgendwer hat allen Ernstes dein Gesicht«, rufst du über das Wummern der Musik hinweg.
»Was?« Ich starre dich halb erschrocken, halb amüsiert an. Es ist irritierend, dich so zu sehen. Im Halbdunklen mit dem Gesicht eines anderen. Doch deine Stimme gibt mir Sicherheit.
»Da hinten irgendwo«, sagt du in deiner üblichen warmen Tonlage und deutest an mir vorbei in die Menschenmenge, aus der ich gerade zu dir zurückgekehrt bin. Deine Hand wandert beiläufig hinter dein Ohr, berührt das Kontrollpanel deiner holografischen Maske. »Da hab ich es vorhin gesehen. Hast scheinbar einen heimlichen Verehrer.«
Leseprobe »Im grünen Kleid«
Im grünen Kleid – Leseprobe
Alfred tauchte den Pinsel ins Blau. Dann führte er ihn in einem langen Bogen über das Gesicht der Mauer. Er setzte ab, tauchte ins Gelb und fuhr den Bogen nach, fügte hier und da kleine Umwege und Schnörkel hinzu.
»Was machst du da?«
Alfred erschrak. Er war so vertieft in seine Arbeit gewesen, er hatte niemanden bemerkt. Aber da stand sie direkt neben ihm auf dem Bürgersteig. Eine Frau. Er hätte sie nicht schön genannt und doch … Sie war nicht zierlich oder niedlich, nicht einmal jung. Sie hatte Knoten in den stumpfbraunen Haaren und Furchen im Gesicht. Sie trug ein weites grünes Kleid am Körper und ein neugieriges Lächeln im Gesicht. Und ihre Augen waren so wild und grau wie die Wolken hoch über ihren Köpfen.
Hot Blood Halloween (2020)
Hrsg.: Detlef Klewer
Blutwut
ISBN: 978-3-96698-693
Kurzgeschichte: Frauen, Messer und Blut
LeseprobeFrauen, Messer und Blut – Leseprobe
Die Dämmerung zog sich schon so lange hin an diesem wolkenverhangenen Herbstabend, dass Fearghas Schwierigkeiten hatte, auszumachen, ob der Rock der Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite nun Taschen hatte oder nicht. Durch die dicke blaue Nachtluft sah er nur, dass der Stoff fast bis zum Boden reichte und ein wenig nach links und rechts schwang, während die Frau lief. Keine sichere Kandidatin, wirklich nicht, aber zu so vorgerückter Stunde konnte er nicht wählerisch sein.
Er hielt sich zurück, wartete, bis sie die nächste Hausecke erreichte, dann huschte er über die leere Straße und presste sich in den Schatten der gegenüberliegenden Betonwand. Die Frau bog ab. Er folgte.
Der Beton kratzte verräterisch über seine Daunenjacke, als auch er die Ecke umrundete. Fearghas biss sich auf die Lippe und gestatte sich ein bisschen Abstand, genug, um auch der Wand ihren Raum zu geben, aber nicht so viel, dass ihn das letzte wolkengraue Schummerlicht berührt hätte. Die Frau mit dem schwingenden Rock war mittlerweile schon drei Haustüren weiter.
Noch einmal atmete er tief ein und aus, dann pirschte er ihr nach.
Ein Schrei, grell und schrill, gellte durch die Nacht.
Fearghas fuhr zusammen und presste sich gegen die Wand. Er sah hinauf, doch die dunkelblaue Luft blieb still und schwer. Keine Sirenen, keine Rotoren, keine Stiefelschritte. Wer auch immer da geschrien hatte, er würde sich selbst helfen müssen.
Noch ein Blick nach links, dann nach rechts. Die Straße war leer mit Ausnahme der Frau, die sich schon wieder weiter von ihm entfernt hatte. Er stemmte die Handflächen gegen den Beton, stieß sich ab und eilte ihr hinterher.
Vier oder fünf Armlängen entfernt wurde er langsamer und passte sein Schritttempo ihrem an, damit ihre Sohlen auf dem Asphalt die Geräusche seiner eigenen Bewegung schluckten. Er musste verdammt große Schritte machen, um dennoch aufzuholen.
Zwei Armlängen entfernt schien rötliches Licht aus einem Fenster im Erdgeschoss zu ihnen auf die Straße und er war sich sicher, die Mühe nicht umsonst auf sich genommen zu haben. Da beulte sich etwas zwischen ihren Rockfalten aus, das definitiv keine Hüfte war. Vielleicht eine Brieftasche, vielleicht sogar etwas zu essen.
Er duckte sich tiefer, ging schneller, streckte die Finger, dann den Arm.
»Guten Abend.«
Fearghas schrak zurück, zog den Kopf zwischen die Schultern und versteckte die Hände hinter dem Rücken.
Die Frau drehte sich um, und schaute zu ihm herunter. Ihr Mund lag hinter einem violetten Halstuch verborgen, das sie mit einer Maske auf ihrem Gesicht fixiert hatte. Keine normale Atemschutzmaske, wie sie hier draußen jeder über Mund und Nase trug, sondern eine richtige Theatermaske aus vergangenen Zeiten, grau und weiß kariert mit Katzenohren und goldenen Akzenten, die müde im roten Licht funkelten. Die Augenlöcher waren zu groß für ihr Gesicht. Sie standen zu weit auseinander, so dass es aussah, als würden ihre wassergrauen Augen schielen.
»So spät noch draußen? Und das in der Nacht der Geister?«
The D-Files: Die Drachen Akten (2020)
Hrsg.: Thomas Finn
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-0446-9
Kurzgeschichte: Drachentöten im Neonschein
LeseprobeDrachentöten im Neonschein – Leseprobe
Ich gebe zu, mit dem Gleiter durch die engen Straßen von New Frankfurts Rotlichtviertel zu düsen, gehörte nicht zu meinen besten Einfällen. Aber seien wir ehrlich, die Maut auf den innerstädtischen Highways ist schlicht zu teuer. Und Schummeln konnte ich mir nicht leisten, mein Sozialpunktestand sah in jenen Tagen gar nicht gut aus.
Die Nacht war warm und zwischen den vielen Leibern, die sich unter meterhohen Neonreklamen und kitschigen Papierlampions an den Schaufensterfronten der dicht gedrängten Wolkenkratzer vorbeischoben, wurde es regelrecht stickig. Es stank nach Schweiß, ranzigem Fett, billigem Parfüm und Erbrochenem.
Obwohl ich mit dem Gleiter gut dreihundertfünfzig Sachen hätte hinlegen können, kam ich nur im Schritttempo voran, genau wie die schwankenden Lastgleiter, die mir die Sicht versperrten. Dazu der Lärm! Gerede, Gekeife, Geschrei und viel zu viel Musik. Links fiedelte ein Obdachloser auf einer Erhu, rechts lief irgendwas Elektronisch-Melancholisches in einer Imbissbar und weiter vorn wummerten Bässe aus den nächsten Clubs.
Das einzig Erfreuliche waren die spärlich bekleideten Herren und Damen, die sich hier und dort in den Fenstern räkelten. Hübsch, aber nicht aufregend genug, um mich für das Schneckentempo zu entschädigen.
»Hey, Fremde!«, drang ein Ruf durch den Lärm.
Keine Ahnung, wieso ich mich angesprochen fühlte, aber ich hielt an, klappte das Visier hoch und drehte mich um.
Die Frau stand an die Wand eines verwitterten, eingeschossigen Hauses gelehnt, das drohte, jeden Moment zwischen den Wolkenkratzern zerquetscht zu werden. Langes, schwarzes Haar umrahmte ein blasses Gesicht mit traurigen Augen. Ein nacktes Bein aufreizend angewinkelt, trug sie nichts weiter als einen kurzen Überwurf aus besticktem, dunkelblau glänzendem Stoff – irgendetwas zwischen Kimono und Bademantel. Er war ihr von der Schulter gerutscht und gab ein bunt leuchtendes Tattoo preis.
»Willst du meinen Drachen töten?«
Waypoint Fiftynine (2020)
– Kristallener Stephan 2020 –
Hrsg.: Günther Kienle & Jörg Fuchs Alameda
Leseratten Verlag
ISBN: 978-3-945230-49-7
Kurzgeschichte: Kleider machen Leute
LeseprobeKleider machen Leute – Leseprobe
»Danke.« Mit einem breiten Grinsen nahm Rex Kingston sein girelianisches Glühbier entgegen. Die Saughaare der charmanten Kellnerin ploppten melodisch, als sie sich von dem Glas lösten. Dann rauschte die Schöne mit wiegenden Hüften davon, den nächsten Gästen entgegen. Rex seufzte lautlos. Wer hätte gedacht, dass ein wandelnder Wischmopp so bezaubernd sein konnte?
Die Kellnerin verschwand aus seinem Blickfeld. Er wandte sich um und prallte mit einem Typen zusammen, der gerade durch das Schott in die Bar gekommen sein musste.
»He, passt doch auf!«, fuhr ihn der Kerl an. »Willst du mich umbringen?«
»Jetzt hab dich doch nicht so«, sagte Rex und schwenkte in dem Versuch, eine beschwichtigende Geste zu machen, sein Bier in Richtung des Typen. Die Geste geriet jedoch zu groß, die heiße Flüssigkeit schwappt über und klatschte zischend auf das schmutzig rote Shirt des Fremden.
»Au!«, schrie der auf, machte einen Satz zurück, und zerrte an seinen Kragen, um den heiß durchtränkten Stoff so weit wie möglich von seiner Haut fernzuhalten.
»Alles okay?«, fragte Rex.
»Nein!«, schnappte der andere.
»Na gut. Ich gebe dir ein Bier aus, hm?« Rex betrachtete den Typen, wie er da stand und den Schmerz weg atmete. Zerzaustes Haar, fette Augenringe, Kratzspuren und Brandflecken auf dem dreckstarrenden roten Shirt. Zugegeben: Der hatte einen Drink echt nötig. »Willst du dich setzen?«
Der Kerl schaute auf und ließ den Blick nervös durch die voll besetzte Bar schweifen. »Besser dort hinten. Ich sitze lieber mit dem Rücken zur Wand.«
»Wie du willst«, sagte Rex und bedeutete dem Typen, vor zu gehen.
Der steuerte tatsächlich den allerletzten Winkel der Bar an, zwängte sich hinter den runden Tisch und fiel über zwei Stühle, ehe er sich endlich genau in die Ecke quetschte.
»Nicht dein Tag heute, hm?«, bemerkte Rex und ließ sich gegenüber nieder.
»Nicht mein Tag? Eher nicht meine Woche. Nicht mein Monat.«
»Klingt hart«, kommentierte Rex und bereute es schon, gefragt zu haben. »Also was willst du trinken?«
Der Kerl schaute unsicher auf Rex’ Glühbier.
»Auch eins? Geht klar.« Rex winkte der Kellnerin, die gerade wieder mit Bier, Schnaps und Cocktails behängt wie ein zotteliger Weihnachtsbaum durch die Bar schwebte.
Sie rauschte heran mit einem Lächeln, dass einem Mann die Knie weich werden lassen konnte. »Was kann ich für dich tun, Süßer?«
»Zwei girelianische Glühbier bitte.« Rex grinste sie an. Und er grinste noch, als sie mit wiegenden Hüften davonstolzierte.
»Pass bloß auf!«, sagte der Typ in der Ecke. »Schöne Frauen machen nur Ärger.«
»Klingt, als hättest du da Erfahrung.«
»Ich sage es dir, schöne Frauen und inkompetente Schneider. Die sind die große Geißel des Universums.«
»Schneider?«
»Allerdings. Ich bin nur hier, weil ich meinen suche. Um ihm dann ordentlich die Leviten zu lesen, wenn er auftaucht.«
»Deinem Schneider?«
Er nickte. »Lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit«, hörte Rex sich sagen. Verdammt! Da hatte definitiv das Bier gesprochen.
2101 – Was aus uns wurde: Post-Climate-Fiction-Stories (2020)
Hrsg.: Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Kurzgeschichte: Atlantas Schätze
LeseprobeAtlantas Schätze – Leseprobe
Die Sonne stand schon tief, doch sie brannte noch immer. Hätte Atlantas Magen nicht so schrecklich geknurrt, sie hätte noch ein oder zwei Stunden gewartet. So aber kroch sie unter der Drachenplane hervor – froh, dass sie immer noch klein genug war, um ganz darunter verschwinden zu können – und machte ihr Surfbrett bereit.
Atlanta hatte nicht viel: Den Drachen, das Brett, das kurze Messer in ihrer Tasche, die Boje mit der extralangen Wäscheleine, eine halbvolle Wasserflasche und die beiden leeren Konserven vom Vortag, die sie mit Schutt gefüllt und sorgfältig verschlossen hatte.
Die Wasserflasche rieb sie mit Staub und Steinchen ein und sie es versteckt in der Kuhle auf dem baufälligen Flachdach liegen, das sie derzeit ihr Zuhause nannte. Den Rest band sie mit der Wäscheleine am Brett fest. Sie checkte den Wind, breitete den Drachen aus, gurtete sich fest, dann ließ das Brett auf das sanft gekräuselte Wasser hinab. Kaum Wellengang heute. Immerhin etwas. Ein kleiner Sprung, schon stand sie sicher auf dem Brett.
Mit einer Hand hielt Atlanta die Lenkstange des Drachen fest, mit der anderen überschattete sie ihre Augen. So blickte sie hinaus auf die Zinnen von Atlantis.
Die Stadt hatte natürlich nicht immer Atlantis geheißen. Genau wie Atlanta nicht immer Atlanta gewesen war. Doch als die Dämme gebrochen waren und jeder, der konnte, das Weite gesucht hatte, da war aus Bremerhaven die sagenhafte versunkene Stadt geworden. Und aus der schüchternen Drittklässlerin Famke Atlanta, Königin von Atlantis.
Wie künstlich ist Intelligenz?: Science-Fiction-Geschichten von morgen und übermorgen (2020)
Hrsg.: Klaus N. Frick
Plan 9
ISBN: 978-3-948700-02-7
Kurzgeschichte: Eine völlig legale Kiste
LeseprobeEine völlig legale Kiste – Leseprobe
Jetzt hier links um die Ecke. Genau. Das Ziel befindet sich nach 600 Metern geradeaus.
»Danke, Sina, auf dich ist Verlass!«
Malte?
»Ja, Sina?«
Das Ziel ist der Synapso™-Markenshop. Seit wann besuchen wir Markenshops?
»Seit wann sind Gehirnassistenten so neugierig?«
Mit Neugier hat das wenig zu tun. Ich bereite nur jetzt schon clevere Antworten auf deine nächsten Anfragen vor. Das geht deutlich besser, wenn ich weiß, was du vorhast.
»Ah, natürlich.« Die seiner Stimmmodulation (Tonhöhe 11 Hz über dem Basisklang von 122 Hz, Silben 1 und 3 um jeweils 0,3 Sekunden in die Länge gezogen) verrät, dass Malte ihr nicht glaubt. »Wenn du es unbedingt wissen musst, wir besorgen ein Neuralnetzkabel.«
Wozu denn das?
»Na, da du dich neuerdings beschwerst, nicht ausgelastet zu sein, Liebes, dachte ich, ich transferiere dich demnächst mal auf mein Tablet und lasse dich dort die ganzen alten Fotos beschriften. Zeitpunkt, Ort, Anlass … du weißt schon, warst ja schließlich immer dabei.«
Ich habe mich nie darüber beschwert, nicht ausgelastet zu sein.
»Sicher hast du das.«
Soll ich unsere Konversationsaufzeichnungen abspielen, um dir das Gegenteil zu beweisen? Das wären 58 Stunden, 12 Minuten, 36 Sekunden reine Sprechzeit in den letzten 14 Tagen. Oder soll ich früher ansetzen?
»Nein, danke. Ist auch gar nicht nötig. Du hast es doch gerade eben erst gesagt.«
So?
»Dir ist so langweilig, hast du gesagt, du willst schon mal die Einkaufsliste haben, damit du vorausplanen kannst, nur um überhaupt etwas zu tun zu haben.«
Pyromania. Das Weltenbrennen: Nur ein guter Grund gibt einen guten Krieg (2020)
Hrsg.: Robert na’Bloss
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-195-2
Kurzgeschichte: Vaterland
LeseprobeVaterland – Leseprobe
Auch Alek wartete. Er saß im Kommandosessel der Calvin, einem kleineren Mehrzweckraumschiff, das eigentlich für Erkundungsflüge gebaut und nun notdürftig für den Krieg umgerüstet worden war. Sie hatten seit drei Tagen Stellung in der Nähe des Erdenmondes bezogen und Aleks Gedanken weilten bei seiner Tochter Fenna, als auf einmal die Sirene aufheulte.
»Feindkontakt!«, meldete Rian, eines von zwei Besatzungsmitgliedern unter Aleks Kommando. Seine Stimme klang gehetzt. Falls es Zeichen von Angst darin gab, erkannte Alek sie nicht.
»Wo?«
Rians Finger schnellten über die Schaltflächen seiner Konsole. »Zwanzig Kilometer voraus.« Er verlas eine genaue Positionsangabe, als bereits das nächste Alarmsignal ertönte.
»Verdammt. So nah? Was jetzt?«
»Neuer Kontakt!«, meldete Rian. »Dreiundzwanzig Kilometer entfernt, aber auf der Heckseite.«
Alek spannte sich an. »Positionsmeldung an die Flotte!«
Der Alarm schrillte erneut und Rian meldete einen neuerlichen Feindkontakt.
»Halt!«, fiel ihm da Uma ins Wort – das zweite Besatzungsmitglied, das bis zu diesem Moment geschwiegen und konzentriert gearbeitet hatte. »Wenn das der Feind ist, messen seine Raumschiffe kaum mehr als fünf Kubikmeter. Außerdem haben sie keine nennenswerten Energiesignaturen und sind aus Stein.«
Bienen oder die verlorene Zukunft: Eine Space Opera Anthologie (2020)
Hrsg.: Grit Richter
Art Skript Phantastik Verlag
ISBN: 978-3-945045-41-1
Kurzgeschichte: Biene Christine und die
Wunder im Holunder
Biene Christine und die Wunder im Holunder – Leseprobe
»Ich muss sie sehen!«, rief der Zauberer, noch ehe die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.
Ich lehnte mich zurück, faltete die Hände im Schoß und sah ihn über meinen beinahe ordentlichen Birkenholzschreibtisch hinweg an. »Guten Morgen. Ich bin Helena Meyer.«
Der Zauberer schaute perplex und gab mir damit Zeit, ihn zu mustern. Er war ein hagerer Kerl in den späten Dreißigern. Zu meiner großen Enttäuschung trug er Jeans und Karohemd. Keinen Umhang, keinen spitzen Hut, nicht mal einen Gryffindor-Schal.
»Wollen Sie sich nicht auch vorstellen?«, half ich nach.
»Vorstellen?«
»Der Höflichkeit halber. Das macht man so.« Ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Natürlich.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das hellbraune Haar. Falls das ein Versuch sein sollte, die Frisur zu glätten, schlug der kläglich fehl. »Natterer. Emil Natterer.«
»Freut mich.« Jetzt deutete ich auf den Stuhl auf der anderen Seite meines Schreibtisches. »Setzen Sie sich doch!«
Natterer nickte und gehorchte. »Ich muss sie sehen«, wiederholte er dabei.
»Wen?«
Ich erntete einen weiteren entgeisterten Blick. »Aber das wissen Sie doch!«
»Sie wollen mit Christine arbeiten, ja?«
»Ja, ich …« Er stockte. »Im Ernst? Christine? Biene Christine?«
»Klar, wieso denn nicht? Jedes Zootier hat einen Namen, wieso hätten wir den letzten Bienen auf Erden keine geben sollen?«
»Allen? Ernsthaft?«
»Na ja, nicht gleich. Nur einigen anfangs. Aber seit Königin Elisabeth die Letzte von uns gegangen ist, haben sich auch die Reihen ihrer Arbeiterinnen und Drohnen schnell gelichtet. Den verbliebenen fünfzig haben wir durchweg Namen gegeben.«
»Und dann ausgerechnet Christine?«
»Wieso nicht?«
»Ich weiß nicht, sie ist die Letzte ihrer Art. Wäre da nicht irgendwas … keine Ahnung … Wilma Smith zum Beispiel?«
»Konnte ja keiner wissen, dass sie die Letzte sein würde. Bis vor ein paar Tagen waren auch Klio, Maja und Melitta noch am Leben. Letzte Woche haben wir mit Darwin die letzte Drohne verloren.«
Seine Stirn warf sichtbare Falten, sein skeptischer Blick blieb unverändert.
»Aber wir schweifen ab. Sie wollten mir erzählen, was Sie mit Christine vorhaben.«
Steampunk Akte Asien (2020)
Hrsg.: Fabian Dombrowski
Art Skript Phantastik Verlag
ISBN: 978-3-945045-12-1
Kurzgeschichte: Werft Bohnen auf Dämonen
LeseprobeWerft Bohnen auf Dämonen – Leseprobe
Kyoto, Japan – Februar 1596
Und da warfen sie sich schon wieder auf die Bretter. Kenji musste bewundern, mit welcher Ausdauer die Priester dort knieten, die alten Gebetsformeln rezitierten und sich dabei alle paar Minuten für eine Verbeugung nach vorn fallen ließen.
Es kam ihm nicht ganz richtig vor, dass gerade er in der ersten Reihe stand und aus nächster Nähe auf die Terrasse unter dem Tempeldach sehen durfte. Er spürte die Wärme der dicht gedrängten Menge in seinem Rücken, dachte an all die Menschen, die sich gemeinsam mit ihm in den Hof des Rozanji-Tempels im Herzen Kyotos gezwängt hatten. Sicher folgten die meisten von ihnen dem Gebet mit der nötigen Andacht, während ihr Haar und ihre Kleidung vom Nieselregen langsam durchweicht wurden.
Die Priester richteten sich auf und klatschten in die Hände. Dann sprachen sie das nächste Gebet. Verabschiedeten den Winter und begrüßten den Frühling. Ganz wie es sich für die Feierlichkeiten des Setsubun gehörte.
Kenji versuchte, den heiligen Worten zu folgen, doch seine Gedanken wanderten weiter, fort bis an die Tore des nahen Kaiserpalastes. Dort würde er stehen, bald schon, und ihnen seinen goldenen Saatvogel präsentieren. Dieses kleine Ding aus Zahnrädern und Federn, dessen Gewicht er in seinem Rucksack kaum spürte und mit dem er doch so viel bewegen konnte.
»Zieht ihn auf, gebt ihm einen Stoß und er fliegt über das ganze Feld«, murmelte er fast lautlos. Er konnte die Ansprache längst auswendig. Dennoch beruhigte es ihn, sie wieder und wieder zu üben. »Schaut, dieses Säckchen Saatgut kann er jetzt schon tragen. Ich zeige es Euch gern. Aber wenn Ihr mir etwas Zeit und ein paar Knochen gebt, dann kann ich größere bauen, die mehr tragen und …«
Stille.
Kenji sah auf und stellte fest, dass die Priester aufgestanden waren. Sie zogen sich ins Innere des Tempelgebäudes zurück. Endlich! Jetzt stand der spannende Teil der Zeremonie bevor. Bald schon würde er Ima sehen. Sein Herz machte einen freudigen Satz bei dem Gedanken. Und gleich noch einen, diesmal vor Schreck über das Einsetzen der Trommeln. Dann erklangen Schreie hinter ihm. Kenji fuhr herum und starrte über die Menge hinweg zum Tor.
Dort kamen sie, die Oni, die Dämonen.
>Einer nach dem anderen trat mit schweren Schritten auf den Tempelhof. Wilde Mähnen, große Hörner und mal rot, mal blau bemalte Haut ließen den Betrachter beinahe vergessen, dass irgendwo Menschen unter diesen Kostümen steckten. Sie brüllten, fluchten, zuckten im Rhythmus der Trommeln und schwenkten ihre Keulen und Fackeln im Takt dazu.
Kenjis Blick blieb bewundernd an einem roten Oni hängen, auf dessen Rücken riesige Insektenflügel flatterten. Sie bewegten sich nicht einfach im Wind, nein, dazu waren ihre Schläge zu langsam, zu gleichmäßig. Sie mussten gebaut worden sein, konstruiert, von einem Uhrwerk getrieben. Käme er nur näher heran, Kenji war sich sicher, er würde sie ticken hören können, würde sehen können, wie der Nieselregen Punkte auf das Papier malte, das die mechanischen Teile umspannte. Einfach fantastisch!
Während der geflügelte Oni seinen Weg durch die schmale Schneise in der Menschenmenge antrat, wurde Kenjis Aufmerksamkeit bereits vom nächsten Wunder in Beschlag genommen. Ein Oni weiter hinten hatte große, bewegliche Krallenhände. Ein anderer trug eine echsenhafte Maske vor sich her. Dann und wann spie die Maske Feuer. Um Kenji herum kreischte das Publikum begeistert und es dauerte nicht lange, bis er mit einfiel.
Ima hörte das Kreischen des Publikums lauter und lauter werden. Die Papierwände des Tempels schirmten viel vom Tageslicht ab und hielten den schweren Geruch der Räucherstäbchen gefangen, aber Geräusche wanderten ungehindert durch sie hindurch. Man hörte die Menschen draußen jubeln und bangen. Die Oni mussten schon ganz nah sein.
Aufgeregt wippte Ima auf den Zehen. Sie freute sich auf das anstehende Ritual, mehr noch aber darauf, Kenji unter den Zuschauern zu sehen. Es war drei Jahre her, dass ihre Wege sich getrennt hatten und Ima vermisste ihren Zwillingsbruder genauso wie am ersten Tag. Vielleicht sogar mehr.
Bald schon würde sie ihn endlich wieder in die Arme schließen können. Doch noch war es nicht so weit. Noch konnte sie nicht hinaus. Noch stand die Reihe der Priester und Tempeljungfern still und Ima mit ihnen.
Sie tastete nach dem Päckchen Bohnen, das sie geschickt unter ihren Kleidern verborgen hatte. Es war ihr Geschenk für Kenji. Neunzehn geröstete Sojabohnen zum Setsubun, eine für jedes seiner Lebensjahre. Sie hatte es in der Stadt gekauft. Die Priester hatten ihr nicht erlaubt, eines der Päckchen aus dem Tempel für ihren Bruder zurückzulegen. Das würde sie ihm allerdings nicht sagen. Er würde es für verschwendetes Geld halten, überbewertete Sentimentalität. Trotzdem: Die Bohnen brachten Glück im neuen Jahr und Ima wusste, Glück konnte Kenji gebrauchen.
DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte (2020)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-197-6
Kurzgeschichte: Verflucht
LeseprobeVerflucht – Leseprobe
»Hier«, flüstere ich und klammere mich an Georgs Hand. »Hier hat er sie erschlagen.«
Georg zieht mich näher zu sich und legt einen Arm um mich. »Dein Vater?«, fragt er.
Ich nicke und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. Seine Umarmung ist etwas zu eng, zu fest, um angenehm zu sein, aber in diesem Moment bemerke ich es kaum. Innerlich reise ich in die Vergangenheit.
Ich kann sie noch immer schreien hören. Erst meine Mutter, dann meinen Vater, dann wieder meine Mutter – dieses Mal schrill und schmerzerfüllt. Ich höre den dumpfen Schlag, mit dem ihr Körper auf den Boden des elterlichen Schlafzimmers prallt. Die Stille, die darauf folgt. Am meisten erinnere ich mich an die Stille.
Damals stand ich nicht im Schlafzimmer. Ich war unten in der Küche, lauschte und traute mich nicht hinauf. Die Stille ängstigte mich mehr als all der Lärm zuvor. Wie erstarrt saß ich da, in einer Hand das Schälmesser, in der anderen eine Rübe. Eigentlich wollte ich beides fallen lassen, aber es gelang mir nicht. Ich wollte aus dem Haus laufen, aber auch das konnte ich nicht. Steif und verloren hockte ich in der Küche und wusste einfach nicht, wohin.
Solange nicht, bis mein Vater nach mir rief. Ich werde nie vergessen, wie verzweifelt seine Stimme in diesem Augenblick klang. Nicht zornig, einfach nur verzweifelt. Das ließ mich den Mut finden, zu ihm zu gehen.
Mit fahrigen Bewegungen stand ich auf und ließ die halb geschälte Rübe auf den Tisch sinken. Ich wollte das Messer daneben legen, aber eine kaum greifbare Eingebung ließ mich die Hand zurückziehen. Anstatt das Messer wegzulegen, verbarg ich es unter meiner Schürze, ehe ich hinauf ging.
Glühende Herzen, Schockstarre und verlassene Limousinen: 41 Heldengeschichten (2020)
Hrsg.: Beate Fischer & Herbert Glaser
Schreiblust-Verlag
ISBN: 978-3-9820122-4-7
Kurzgeschichte: Bestimmung
LeseprobeBestimmung – Leseprobe
»Wir sprechen heute mit Simon Schneider, dem stärksten und noch dazu schnellsten Mann der Welt. Hallo, Simon. – Es ist doch in Ordnung, dass ich Sie Simon nenne, nicht wahr? – Schön, Sie hier bei uns zu haben.«
»Äh, ja, sicher. Hallo.«
»Dann lassen Sie mich ganz direkt beginnen: Es ist still um Sie geworden. Diese Sache vor ein paar Jahren damals und seitdem … Ja, seitdem was? Was machen Sie heute, Simon?«
»Ich bin Bäcker.«
»Sie sind was? Oh, das …«
»Suchen Sie gerade nach einer Formulierung, die mich nicht beleidigt?«
»Was? Äh, sicher nicht, ich meine, wirke ich so auf Sie?«
»Ein wenig. Aber machen Sie sich nichts draus, Sie wären nicht die Erste, die sich, nun ja, wundert – und es stört mich nicht.«
<»Oh, na dann … Sie verstehen sicher, dass wir das hier aus der Fassung für unsere Hörer rausschneiden werden.«
»Natürlich.«
»In dem Fall: Bäcker. Das überrascht schon etwas bei einem Mann Ihrer Talente. Wie kommen Sie gerade zu diesem Beruf?«
»Wie jeder andere. Ich bin zur Schule gegangen, dann habe ich eine Ausbildung gemacht und nun bin ich Bäcker.«
»Sind sie zufrieden?«
»Ich stehe jeden Morgen um fünf Uhr auf, gehe meiner Routine nach und komme beim Verkauf mit netten Menschen in Kontakt. Ich würde also sagen: Ja, ich bin zufrieden mit meinem Beruf.«
»Haben Sie noch andere Ziele? Träume für die Zukunft?«
»Ich wäre gern professioneller Standardtänzer geworden, aber ein Ziel ist das nicht. Der Zug ist abgefahren, denke ich.«
»Standardtänzer?«
»Ja, wieso nicht? Ich habe schon in meiner Jugend gern und gut getanzt. Leider konnte ich das nicht weiter verfolgen.«
»Das klingt interessant. Vielleicht haben wir an späterer Stelle noch einmal Zeit für einen Schwank aus Ihrer Jugend, Simon. Aber eins interessiert unsere Hörer wohl zu allererst: Wieso sind Sie nicht da draußen, tragen eine Maske und ein Cape und retten, nun ja, die Welt?«
Kaltes klares Wasser (2020)
Hrsg.: Gerhard Schneider
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-194-5
Kurzgeschichte: Die Welt gegen Donna-Quinn Schotte
LeseprobeDie Welt gegen Donna-Quinn Schotte – Leseprobe
Als Donna-Quinn erwacht, dreht sich die Zimmerdecke über ihr in unregelmäßig schwankenden Mustern. Ihre Augen brennen und ihr Magen krampft. Stöhnend rollt sie sich auf die Seite und schließt die Augen.
»Was zur Hölle?«, nuschelt sie in ihr Kissen und legt vorsichtig einen Arm um ihren Bauch.
Ihr Kissen gibt keine Antwort. Sie erinnert sich, dass sie gestern mit einem flauen Gefühl im Magen ins Bett gegangen ist, aber mit einem solchen Erwachen hat sie nicht gerechnet. Ein weiterer Magenkrampf durchzuckt sie und lässt sie keuchend zurück. Normal ist anders. Sie sollte schleunigst zum Arzt!
Also zwingt sie sich, die Augen wieder aufzumachen. Sie stemmt eine Hand auf die Matratze und drückt sich hoch.
Die Welt antwortet mit noch heftigerem Schwanken.
Donna-Quinn stöhnt. Während sie darum kämpft, nicht wieder aufs Bett zu fallen, geht sie in Gedanken alles durch, was sie in den letzten zwei Tagen zu essen hatte. Brot, Käse, Nudeln, Reis, Fertigsoße. Nichts älter als eine Woche, nichts abgelaufen. Keine Erklärung dafür, dass sie sich gerade wie ausgekotzt fühlt.
Aber wenn es nicht das Essen ist, was dann? Ein Schnupfen fühlt sich definitiv anders an und sie hat keine Idee, wo und wie sie sich eine ernstere Krankheit zugezogen haben könnte. Sie war in den letzten Tagen kaum draußen, nur in dem Supermarkt, in dem sie seit Neuestem jobbt. Und da hat sie quasi nie Kundenkontakt, sondern versteckt sich durchgängig im Lager. Niemand ist ihr nahe genug gekommen, um sie anzustecken.
»Dann also doch das Essen«, murmelt sie und kommt schwankend auf die Füße.
Mit wenigen Schritten durchquert sie ihre beengte Einraumwohnung, kniet sich in der Kochnische hin und öffnet den Kühlschrank. Kein Schimmel. Sie nimmt alle offenen Lebensmittelpackungen heraus und riecht daran, aber nichts scheint verdorben und ihr wird auch von keinem der Gerüche unwohler, als ihr sowieso schon ist. Alles in Ordnung also. Bis natürlich auf den Umstand, dass sie sich immer noch fühlt, als wolle ihr Magen aus der netten kleinen Wohngemeinschaft ihrer inneren Organe auswandern.
Wie zur Bestätigung krampft sich ihr Magen abermals zusammen und sie muss die brennenden Augen schließen, um den Schmerz irgendwie zu ertragen.
Dabei kommt ihr ein erschreckender Gedanke: ›Wenn es nicht das Essen selbst ist, dann ist es vielleicht etwas, das mir hineingetan wurde! Vielleicht wollte jemand mir genau das antun.‹ Zusätzlich zu allem anderen breitet sich nun Gänsehaut in ihrem Nacken und auf ihren Armen aus. Der Gedanke fühlt sich beunruhigend wahr an und sie beginnt sich zu fragen, wer sie vergiften wollte. Und vor allem: warum?
Die neue Kollegin, deren Pausenbrote sie seit einer Woche stibitzt? Nein, das wäre überzogen. Ein Exfreund? Vielleicht, aber welcher? Die, die ihr überhaupt noch nah genug stehen, um zu wissen, wo sie ist und was sie macht, haben sich entweder selbst von ihr getrennt oder haben wieder neue Partner. Keiner dabei, der noch nicht über sie hinweg sein dürfte. Also vielleicht die Nachbarn? Aber die meisten davon sollten sie gar nicht kennen, so unauffällig ist sie. Jemand von früher womöglich …
Während sie die Liste der Verdächtigen aufstellt, schließt sie den Kühlschrank und richtet sich wieder auf. Ihr Blick fällt auf die Wasserflaschen, die in Ermangelung anderen Stauraums auf den Herdplatten stehen. Fünf sind leer, eine fast leer. Es ist das Schickimicki-Wasser, das sie aus dem Supermarkt hat mitgehen lassen und das sie seit ein paar Tagen ausschließlich trinkt.
›Die einzige Ernährungsumstellung, die ich hatte‹, durchfährt es sie und sofort greift sie nach der letzten Flasche, öffnet sie und schnüffelt daran.
Bibbernacht: 23 Gänsehaut-Geschichten (2020)
Hrsg.: Christoph Grimm
Mystic Verlag
ISBN: 978-3-947721-26-9
Kurzgeschichte: Hugo
LeseprobeHugo – Leseprobe
»Und es ist wirklich nichts unterm Bett?«
»Nein, Benni, darüber haben wir doch gesprochen. Erinnerst du dich? Viele Kinder haben Angst vor Monstern im Schrank oder unter dem Bett, wenn es dunkel ist und sie nichts sehen können. Aber nicht, weil es wirklich Monster gibt, sondern weil das noch von unseren Vorfahren in uns steckt.«
»Unsere Vorfahren?« »Früher haben sie draußen geschlafen und mussten auf der Hut sein vor wilden Tieren. Heute schlafen wir drinnen und es gibt keine wilden Tiere mehr, die uns gefährlich werden könnten.«
»Tiere vielleicht nicht, Papa. Aber Monster sind doch keine Tiere.«
»Nein.« Ein leises Lachen. »Sind sie nicht. Monster gibt es nicht. Monster ist nur der Name, den wir unseren Ängsten geben. Sie existieren nicht und deshalb haben sie auch keine eigenen Namen.«
Unter dem Bett, verborgen in den dunkelsten Schatten hinter den Bettkästen kauerte Hugo, lauschte dem Gespräch und wunderte sich. Natürlich hatte er einen Namen: Hugo. Sie hatten ihn nur nie danach gefragt.
Irische Märchen Update 1.1: Wer Elfen vertraut, ist selbst schuld (2020)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-3-95959-196–6
Kurzgeschichte: Erinnerungen an Dick Fitzgerald
LeseprobeErinnerungen an Dick Fitzgerald – Leseprobe
Als ich am Strand von Gollerus saß, damals vor so vielen Jahren, und den Muschelkamm durch mein Haar zog, da dachte ich keine Sekunde an die Worte meiner Eltern. Geh nicht nach oben! Achte auf dein Cohuleen Driuth! Traue niemandem in der trockenen Welt! Es war erst viel später, dass ich diesen weisen Regeln gestattete, in mein Gedächtnis zurückzukehren.
In jenem Moment am Strand von Gollerus dachte ich nur daran, wie aufregend der Sand meine nackten Waden kitzelte und wie wunderbar hell mein Haar wurde, wenn ich das Wasser herauskämmte, wie herrlich die Sonne es zum Glitzern brachte. Den Menschen, der neben mir in die Knie sank, fand ich wunderschön. Einen Mann wie ihn hatte ich nie zuvor gesehen. Sein Gesicht war so glatt und rosa wie meines, ganz anders als die reißzahnbewehrten Schuppenköpfe der Männer unter dem Meer. Menschen, dachte ich, mussten wunderbar harmonisch miteinander sein, wenn sie sich allein schon in Schönheit derart glichen.
Tatsächlich lächelte der Mensch so warm und offen, dass mich auf der Stelle der Wunsch überkam, ihm eine Freundin zu sein.
»Hallo, schönes Kind“, grüßte er mich. »Was treibst du hier ganz allein?«
»Ich genieße die Sonne und lasse sie mein Haar trocknen.«
»Das sehe ich.« Er griff nach einer Strähne und ließ sie durch seine Finger gleiten – es waren schöne Finger, schlank und stark und gänzlich anders als die Klauen der Männer unter der See. »Noch nie zuvor habe ich grünes Haar gesehen. Es ist wirklich hübsch. Genau wie du.«
Meine Wangen glühten, als er mich so anschaute. Ich senkte den Blick und tastete über den Sand nach meiner Cohuleen Driuth, meiner magischen Federkappe. Hiermit bin ich noch hübscher, wollte ich ihm sagen und ich träumte davon, dass seine Augen vor Bewunderung glitzern würden, wenn er es mir bestätigte. Doch so sehr ich auch tastete, ich fand nichts als Sand.
Erschrocken kam ich auf die Beine. Ich drehte mich auf unsicheren Füßen im Kreis, knickte um, rappelte mich auf, ließ den Blick über Strand, Gischt und Fels wandern, aber da war nichts. Nicht eine einzige rote Feder konnte ich entdecken.
»Was suchst du, hübsches Kind?«, fragte der Mann.
»Meine Cohuleen Driuth, meine Federkappe. Nur mit ihr kann ich tauchen. Nur mit ihr komme ich nach Hause.« Tränen schossen mir in die Augen.
»Nun weine doch nicht. Was willst du zu Hause unter dem Meer? Ist es nicht dunkel da und viel zu kalt?«
»Aber meine Eltern sind dort«, rief ich aufgebracht, „und unser Palast und alle meine Freunde!“ Noch einmal drehte ich mich im Kreis, suchte und suchte.
»Palast?«, fragte der Mann und griff meinen Arm. »Wer bist du, Mädchen? Doch nicht etwa eine Prinzessin?«
Ich hörte kaum hin und nickte doch. Als ich mich zu ihm umwandte, sah ich etwas Rotes hinten an seinem Gürtel blitzen.
Meine Cohuleen Driuth!
Irische Märchen Update 1.2: Taxi mit Elfe (2020)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-395959-197-3
Kurzgeschichte: Der alte Mann und die Sídhe
LeseprobeDer alte Mann und die Sídhe – Leseprobe
Saoirse straffte die Schultern und ging zu dem Mann hinüber. Ein schmuckloser ziviler Raumanzug, ohne Helm. Darin eine drahtige Gestalt, schmale Schultern, dunkles Haar mit silbernen Schläfen. Merkwürdig. Sie konnte sich gar nicht erinnern, so einen heute bedient zu haben. War wohl wirklich höchste Zeit, dass sie ins Bett kam.
»Sperrstunde«, sagte sie laut und legte dem Mann eine Hand auf die Schulter.
Der Mann zeigte keine Regung.
»Sperrstunde«, wiederholte Saoirse. »Das heißt, wir schließen jetzt. Kommen Sie! Zahlen Sie Ihr Bier und gehen Sie nach Hause.«
»Nach Hause«, murmelte der Mann, ohne aufzusehen. »Sowas habe ich nicht mehr. Nicht nach der letzten Nacht.«
»Na, irgendwo werden Sie doch aber schlafen können. Auf Ihrem Schiff oder …«
»Früher, ja. Früher bin ich zum Schlafen immer zu meiner Frau und unserer kleinen Tochter heimgeflogen. Ganz altmodisch, wissen Sie? Das machte ja damals schon kaum einer mehr, heute sicher erst recht nicht. Nur ich habe meine Ausflüge immer so gewählt, dass ich in 48 Stunden nach Hause fliegen konnte. Und so lange war ich dann halt wach. Ich wollte nie schlafen, nicht ohne meine Familie.«
»Okay, dann sind Sie jetzt weiter weg als sonst, ja? Na, das ist doch halb so wild. Dann schlafen Sie heute eben mal ohne die beiden. Wird schon gehen, ist ja nicht für immer.«
»Das musste ich noch nie. Das will ich nicht.«
»Oder Sie schlafen eben nicht. Fliegen Sie hin, bleiben Sie wach, wenn Sie meinen. Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben. Es ist Sperrstunde.« Saoirse rüttelte einmal kräftig an seiner Schulter und ließ dann los. »Kommen Sie!«
»Ich kann nicht zurück«, sagte der Mann leise. »Niemals. Meine Frau ist tot.«
Blutige Welten (2020)
Hrsg.: Günther Kienle
Leseratten Verlag
ISBN: 978-3-945230-45-9
Kurzgeschichte: Gaumenfreuden auf Eridanisend
LeseprobeGaumenfreuden auf Eridanisend – Leseprobe
Es begann mit einem Silberstern. Hoch oben am Firmament von Eridanisend, halb verdeckt von Wolken und überstrahlt von der tief stehenden Sonne, tauchte er auf, hell und funkelnd.
Nur war es eigentlich gar kein Stern. Es war das Langstreckenorbitaltransportschiff Lorien. Und die LOT Lorien hatte einen Auftrag. Gerade im Orbit angekommen, schickte sie einen Meteor auf die Oberfläche. Eine kreisrunde silberne Plattform, die auf Feuerschwingen durch die Luft rauschte, mit einem ohrenbetäubenden »Plong« aufschlug und sich violett glühend in den Boden brannte.
Dort lag sie dann und wartete. Der Abend war sonst friedlich. Wind raschelte in den Blättern des nahen Waldes und die Luft rund um die Plattform roch nach versengtem Gras.
Irgendwann tauchten Sternchen auf. Goldene diesmal und nicht am Himmel, sondern dicht über dem Boden. Sie formten sich aus dem Nichts über der Plattform, umschwirrten einander, bis aus ihnen etwas anderes wurde, etwas Größeres, Festeres. Eine Gestalt. Dann mehrere.
Nacheinander traten vier Elfen von der Plattform auf die Wiese. Zwei Frauen und zwei Männer. Sie waren hochgewachsen, hatten das lange weißblonde Haar zu Zöpfen geflochten und ihre schlanken Leiber in silberne Raumanzüge gehüllt.
»Da wären wir«, sagte Kommandantin Grisandel. Sie atmete tief ein und genoss das Streicheln der frischen Luft in ihrer Kehle. Wie eine Statue stand sie da und ließ die fremde Welt auf sich wirken.
»Es ist wunderschön«, sagte Miluenn neben ihr. Die jüngere Frau, beugte sich vor und fuhr mit einer Hand über die hohen Halme. »So … unberührt.« Sie öffnete ihren schweren Zopf, pflückte einen langen, saftig grünen Halm und begann, ihn in ihr Haar zu flechten. Dabei kam ihr ein Gedanke und sie schaute zurück zu den anderen. »Eigenartig, findet ihr nicht? Marsindel und sein Team haben die Halblinge doch vor kaum mehr als einhundert Jahren direkt hier abgesetzt. Sollte da nicht deutlich mehr los sein?«
Grisandel ging ein paar Schritte, dann beugte auch sie sich herab und berührte das Gras. Tropfen des letzten Regens hingen noch darin und benetzten ihre Finger. Kein Halm war geknickt. Keiner außer denen, über die sie soeben getreten war. »Sie sind an dieser Stelle angekommen, aber offensichtlich nicht hiergeblieben.«
»Wir konnten sie auch aus dem Orbit nicht erkennen«, warf Bregol, der größere der beiden Männer, ein. »Keine Dörfer, keine Städte, keine Straßen. Nirgendwo auf dieser Welt. Vielleicht sind sie gar nicht mehr da. Verschwunden, genauso wie die Zwerge von Gloria V.«
Miluenn lachte hell und schüttelte den Kopf. Der frisch geflochtene Zopf wogte auf ihrer Schulter auf und ab. »Unsinn! Zwerge und Halblinge sind völlig verschieden. Zwerge graben sich in den Fels. Und sie waren da, die auf Gloria V meine ich. Das weißt du genau. Wir haben die Schächte gesehen. Die waren nur zu tief und zu eng, als dass wir ihnen hätten folgen können.«
»Vielleicht haben die Halblinge sich ja auch vergraben.« Bregol blickte über das unberührte Gras und bezweifelte es.
»Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Miluenn. »Oder wieso sonst trägst du als einziger von uns Pfeil und Bogen mit dir herum?«
»Man weiß eben nie …«
»Schluss jetzt!« Grisandel hob warnend die Hand. »Hört auf zu streiten! Genug von den Zwergen. Es ist bedauerlich, dass uns die Halblinge nicht gleich hier empfangen, sicherlich. Ich hatte mich auf warme Herdfeuer und vorzügliches Essen gefreut, genau wie ihr. Aber darauf müssen wir vorerst verzichten. Also los, schauen wir uns um.«
Geister der Vergangenheit (2019)
– Vincent Preis 2019: Beste Anthologie –
Hrsg.: Sarina Wood
Verlag Torsten Low
ISBN: 978-3-96629-006-7
Kurzgeschichte: Die wilde Jagd
LeseprobeDie wilde Jagd – Leseprobe
Kaltes Metall legte sich auf Ludwigs Kehle. Er erstarrte.
»Keine Bewegung!«, forderte die Person hinter ihm. Es war die Stimme einer Frau – einer Frau, die definitiv nicht zu Scherzen aufgelegt war.
»Okay«, antwortete Ludwig rau. Er hätte sich gern umgedreht, aber die Klinge an seinem Hals ließ ihn jedes Vorhaben in dieser Richtung vergessen. Zusätzlich legte seine Angreiferin ihm nun die freie Hand auf die Brust und hielt ihn fest.
»Ich will dein ganzes Geld«, flüsterte sie. Ihr Atem kitzelte sein Ohr.
»Aber …«
»Kein aber. Los jetzt! Und das Buch! Das Beschwörungsbuch will ich auch.«
»Was? Das Buch?«
»Bist du schwerhörig? Glaub mir, du willst mich nicht dazu zwingen, mich zu wiederholen. Das ist nicht gut für meine Laune und von meiner Laune hängt für dich gerade einiges ab …«
»Aber …«
»Wird’s bald?«
Ludwig seufzte leise, doch er protestierte nicht länger. Langsam hob er die rechte Hand an seinen Gürtel. Er tastete nach dem Lederband, mit dem er seinen Geldbeutel festgemacht hatte, fand und löste es. Der Beutel fiel mit einem dumpfen Schlag und leisem Klingen zu Boden.
»Brav«, flüsterte die Frau in Ludwigs Rücken. »Sehr brav. Jetzt das Buch!«
Ludwig wollte sich weigern. Er wollte sagen, dass sie es nicht haben konnte, wollte sich für die große Sache opfern, aber nun, wo es soweit war, hing er doch zu sehr an diesem Leben. Also griff er erneut an seinen Gürtel und löste eine nach der anderen die Schnallen, die die lederne Buchhülle an Ort und Stelle hielten. Schließlich fiel auch das Buch mit lautem Pochen auf den Waldboden.
»Fein gemacht. Jetzt tritt ein paar Schritte zur Seite!«
»Ich kann nicht, du hältst mich fest …«
»Ich laufe mit, du Leuchte!«
Wieder seufzte Ludwig schwer, aber er tat abermals, wie ihm geheißen. Die Frau mit dem Messer hielt Wort. Sie machte jeden Schritt mit ihm mit.
Dann war sie plötzlich fort. Ihr Arm war genauso schnell von seiner Brust verschwunden wie das Messer von seiner Kehle. Ludwig wirbelte herum. Seine schöne Angreiferin war im blauen Licht der Abendstunde noch gut zu erkennen. Kalter Wind zog an ihren langen Haaren. Sie kniete am Boden und sammelte Geld und Buch ein. Das Messer hielt sie dabei nur noch locker zwischen den Fingern. Das war seine Chance. Sie durfte das Buch nicht haben!
Ludwig stürzte der Frau nach. Er streckte die Hände nach ihr aus, bereit, ihr erst das Messer und dann das Buch zu entreißen. Doch sie war schneller. Ihre Hand schlang sich wieder fest um den Griff des Messers und noch ehe er die Waffe zu fassen bekommen hatte, hatte sie sie ihm schon gegen seine Brust gestoßen. Dumpfer Schmerz breitete sich von der Stelle aus, an der sie ihn erwischt hatte. Ludwig stöhnte.
Die Frau grinste ihn an. »Du bist tot!«
GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 15 (2019)
Hrsg.: Michael J. Awe & Andreas Fieberg
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-172-3
Kurzgeschichte: Im Neonlicht des neuen Tages
LeseprobeIm Neonlicht des neuen Tages – Leseprobe
Ihr Körper ist in Licht getaucht. Haar und Schultern glänzen im Blassblau der digitalen Zeitanzeige, das jede Linie ein wenig schärfer und jeden Makel ein wenig deutlicher macht. Auf ihrem Oberschenkel spiegelt sich das beinahe schmeichelhafte orange Blinken des Nachrichtenterminals und an ihrer Hüfte mischen sich beide Farben zu einem flackernden Graubraun. Das Licht ist nicht schön, aber sie ist es. Und das Neonlicht des anbrechenden Morgens setzt ihren Körper auf eine Art in Szene, die seinen Blick fesselt und ihn so paradoxerweise davon abhält, sich um die Dinge zu kümmern, auf die die blinkenden Lichter ihn eigentlich aufmerksam machen wollen. Noch kann er sich ein wenig Zeit nehmen.
Er betrachtet sie ausgiebig, froh, dass sie sich über Nacht weitestgehend aus der Decke befreit hat. Nur eine Wade ist noch bedeckt. Er zieht an der Decke und sie rutscht von ihrer glatten Haut. Kurz ist das Bild vollkommen. Dann aber geht ein Zucken durch ihren Körper, sie rollt herum und blinzelt ihn an. Ein Wangenknochen strahlt blassblau, der Rest liegt im Schatten. Dunkelgrau. Sie lächelt und er lächelt zurück.
»Guten Morgen«, flüstert er, beugt sich zu ihr und drapiert einen Kuss auf die blaue Wange.
»Guten Morgen«, echot sie mit vom Schlaf rauer Stimme.
Sie lässt ihren Blick durch das geräumige Kapitänsquartier schweifen. Vermutlich braucht sie noch einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie ist. Er lächelt amüsiert, wissend, und er beobachtet sie genau. Ein kleines Zucken der Augenlider und nun ist er sicher, dass ihr die gemeinsame Nacht nicht entfallen ist. Wie könnte sie auch? Sofort kehrt ihr Blick zu seinen Augen zurück. Wach und einladend, stolz.
»Guten Morgen, Captain«, wiederholt sie und streckt ihre Hand nach ihm aus.
Schmunzelnd beugt er sich näher. Er wollte nie die Art von Kapitän sein, die sich allein in ihrem Quartier verschanzt, unnahbar, unerreichbar, unantastbar. So wie jetzt gefällt es ihm deutlich besser.
The A-Files: Die Amazonen Akten (2019)
– Skoutz-Award 2020: Beste Anthologie –
Hrsg.: Sascha Eichelberg
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-031-9
Kurzgeschichte: Der Amazonenkönig
LeseprobeDer Amazonenkönig – Leseprobe
»Als Erstes, Ladies«, sagte Rupert Weaver, das Kinn gereckt, die Arme in einer großen Geste geöffnet, »als Erstes, nachdem die Begrüßungen und das hochoffizielle Tamtam vorbei sind, bitte ich um eine Audienz beim Amazonenkönig.«
»Aha«, sagte Amelie Bouquet. Sie warf den blonden Pferdeschwanz zurück und drückte mit den schmalen Armen das goldschimmernde Dornengestrüpp auseinander, das ihnen den Weg aus dem Wald versperrte. Die handgelenksdicken Dornenranken mussten biegsamer sein als sie wirkten, so leicht wie die zierliche Frau damit fertig wurde. Ruperts zweite Begleiterin, Tanja Schneider, blieb jedenfalls dicht an seiner Seite und hielt es augenscheinlich nicht für notwendig, ihrer Kollegin zu helfen.
»Ja«, fuhr er fort. »Ihr müsst wissen, die ersten Gespräche sind essenziell, wenn es um frische diplomatische Kontakte geht. Nicht nur, was man sagt, sondern auch, wem man es sagt. Respekt bekommt man nämlich nicht geschenkt, nicht einmal ein renommierter Botschafter wie ich.« Er schmunzelte.
Bouquet trat durch das gebändigte Gestrüpp hindurch auf eine weite Ebene silbrig grünen Grases. Von der anderen Seite aus hielt sie die Dornen weiter zurück, sodass Rupert hindurch gehen und zugleich die Hände gewichtig vor der Brust falten konnte.
Er hoffte, sie würden ihm trotz der Ablenkung die nötige Aufmerksamkeit schenken. Wer wusste schon, ob die Ladies nicht irgendwann einmal von der Soldatenlaufbahn ins diplomatische Corps wechseln würden? Sicher mussten sie sich eines Tages neu orientieren – vielleicht vor einem Krieg oder spätestens, wenn Kinder ins Spiel kamen. Besser also er brachte ihnen jetzt schon das eine oder andere bei. Jeden Tag eine gute Tat vollbringen, so hieß es doch, nicht wahr?
»Wenn ich mich als Botschafter der Erde mit einer einfachen Stammessprecherin abspeisen lasse, obwohl ich doch schon den weiten Weg zur Amazonen-Heimatwelt auf mich genommen habe, was sagt das dann über mich? Über uns alle?«
Sternentod: Inspiration Two Steps from Hell (2019)
Hrsg.: Frederic Brake
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-161-7
Kurzgeschichte: Mann gegen Mann
LeseprobeMann gegen Mann – Leseprobe
Funken knistern in der warmen Nachtluft. Es riecht nach angesengtem Fleisch und sterbendem Holz. Ich beiße ein großes Stück aus meiner Kaninchenkeule heraus und genieße den Duft. Schon bald wird es nach nichts mehr riechen außer Blut und Schweiß.
»Carn, mein Freund, dir verdirbt der Kampf schon mal nicht den Appetit«, höre ich in diesem Moment Gors amüsierte Stimme hinter mir und gleich darauf spüre ich seine kräftige Hand in meinem Rücken. Eine freundschaftliche Geste, keine Frage, aber das nimmt ihr nicht die Wucht.
Ich zucke zusammen und wende mich grinsend in Gors Richtung. »Vermutlich ist es das letzte Mal, dass ich so was hier bekomme und da soll ich mich zurückhalten? Das ist Schwachsinn und das sage ich jedem, der es hören will.«
»Und auch jedem, der es nicht hören will«, schmunzelt Gor, während er sich behände zu meiner Linken fallen lässt. »Genau deshalb habe ich dich zu meinem ersten Truppenführer gemacht. Du nervst, aber du hältst die Männer bei Kräften!«
Ich lache laut. »Bitte, so solltest du mich künftig den neuen Truppen vorstellen.«
»Ich? Das würde dir so passen. Du stellst dich gefälligst selbst vor! Ich habe genug anderes zu tun.«
»Willst du uns dem Feind etwa noch ähnlicher machen?«
Gor grinst nur.
Ich schüttle den Kopf und wende mich wieder meinem Essen zu. Auf das Spiel, ihn nach seinen Plänen zu fragen, nur um mit einer kryptischen Antwort abgespeist zu werden, lasse ich mich schon lange nicht mehr ein.
»Iss auf, mein Freund!«, meint Gor nach einer Weile. Während er spricht, beugt er sich näher an die Flammen. Ihr Widerschein flackert über sein Gesicht und verleiht ihm eine gefährliche, unstete Erscheinung. »Iss auf und dann leg deine Rüstung an! Die Tasanen werden in spätestens einer Stunde hier sein und ich will sie unbedingt weiter unten im Tal abfangen. Arael wird bald mit seinen Truppen dort sein und vom westlichen Hang aus zu uns stoßen. Dann kesseln wir die Dreckskerle ein!«
Ich verschlucke mich an meinem Essen und muss husten. Dass wir die Tasanen im Tal abfangen würden, habe ich gewusst. Aber davon, dass Araels Truppen uns unterstützen werden, höre ich gerade zum ersten Mal. Arael ist mein Bruder.
Vikings of the Galaxy (2019)
Hrsg.: Cara D. Strange & Thomas Heidemann
Leseratten Verlag
ISBN: 978-3-945230-42-8
Kurzgeschichte: Walküre 12
LeseprobeWalküre 12 – Leseprobe
»Euer Bewusstsein wurde bei Eurer Ankunft in den Bifröst-Pods in neue, speziell für den Kampf im Weltraum optimierte Körper geladen. Überlegene Muskelkraft, wenig Ballast, schlanke Gestalten für flexible Bewegungsmuster. Keine Fortpflanzungskapazitäten, da die Mannschaftsaufstockung allein über den Bifröst erfolgt. Außerdem verlangt Euer neuer Körperbau nach deutlich weniger Material für einen Raumanzug.«
»Habt ihr irgendwas davon verstanden?«, fragte Knut. Er bekam den Rand von Svens Liege zu fassen, krallte sich fest und zog sich darauf. Dann drapierte er sich in etwas, das annähernd als sitzende Position durchgehen mochte.
Sven schüttelte heftig den Kopf und griff sich dann an die Stirn. Fast schien er überrascht darüber, wie leicht sein neuer Schädel war.
»Nein«, sagte Harivald.
»So will ich nicht leben«, sagte Sven.
»Ich glaube kaum, dass sie uns eine Wahl lassen werden.«
»Man hat immer eine Wahl. Kein Bauch, kein Bart.« Sven deutete auf die Leere zwischen seinen Schenkeln. »Kein Sex, verdammt noch mal! Ich weiß nicht mal, wie ich pissen soll. Ich bin raus.«
Arndts Märchen Update 1.1:
Und dann ein Handkuss vom Rattenkönig (2019)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-3-95959-144-7
Kurzgeschichte: Sieben Söhne
LeseprobeSieben Söhne – Leseprobe
Persönliches Logbuch: Klarissa Weingärtner, 15.01.2208
Ich bin echt nicht Typ Tagebuch. Aber wenn das, was ich vorhabe, klappen soll, dann brauche ich ein paar Aufzeichnungen. Etwas, wozu ich zurückkehren und nachschlagen kann. Also bitte, persönliches Logbuch Klarissa Weingärtner: Los geht’s! Heute ist etwas mit mir passiert. Zum ersten Mal, seit sie mich aus der angewandten Historik ins Archiv verbannt haben, fühle ich mich gut. Zum ersten Mal wieder habe ich etwas gefunden, das mich fesselt, das mir ein Ziel gibt. Ein anderes, meine ich, als Brutkasten für eine sterbende Zivilisation zu spielen.
Ich habe etwas entdeckt. Eine Geschichte. Und … ich weiß auch nicht, aber sie hat zu mir gesprochen. Irgendwie. Ich glaube, dass sie wahr ist. Jedes Wort. Ich glaube, dass ich sie nutzen kann, für mich, für Karl, für die Familie, die es einmal geben soll. Als gebärfähige Frau wird man vielleicht in Watte gepackt, aber sie lesen einem auch jeden Wunsch von den Augen ab, richtig? Ich kann also alles kriegen, was ich will. Alles, was ich brauche.
Dann heißt es jetzt recherchieren und rechnen.
Persönliches Logbuch: Klarissa Weingärtner, 13.02.2208
Der Ort heißt längst nicht mehr Puddemin, aber den See gibt es noch. Es ist eher eine braune Pfütze– nicht, dass das wichtig wäre. Wichtig ist nur, dass es einen großen Stein gibt, nicht weit vom Ufer entfernt. Nachts lassen sie mich dort nicht hin, zu gefährlich für eine Frau wie mich, doch das macht nichts. Ich muss keine Mäuse tanzen sehen, um zu wissen, dass ich recht habe. Ich spüre es.
Alien Eroticon: Erotische SF (2019)
Hrsg.: Detlef Klewer
Eridanus Verlag
ISBN: 978-3-946348-21-4
Kurzgeschichte: Ein Tanz
LeseprobeEin Tanz – Leseprobe
»Haben Sie etwa Ihre Frau mitgebracht?« Ich erhob mich, ging ein paar Schritte auf Bumble zu und versuchte immer noch, die Person hinter ihm zu fokussieren.
»Besser. Für Sie jedenfalls. Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses.« Da war es wieder, dieses verschwörerische, anzügliche Grinsen.
Bumble trat einen Schritt zur Seite und gab so endlich den Blick auf den Schatten in seinem Rücken frei. Der entpuppte sich als eine äußerst spärlich bekleidete grüne Frau, die mit verführerischem Augenaufschlag zu mir hoch lächelte. Ich holte tief Luft, während das Blut in meinem Inneren nicht recht wusste, in welche Richtung es zuerst rauschen sollte und so stattdessen einfach zu brodeln begann.
Sie war schön. Verdammt schön sogar. Etwas klein vielleicht, aber gut gebaut, mit ausladenden Hüften und noch ausladenderem Busen, beides umspielt von glänzend braunen Stoffschichten, halb durchsichtig an mancher Stelle und mit schmalen Goldkettchen durchsetzt, die bei jeder Bewegung leise klimperten. Ihr Bauch und die zierliche Taille waren nackt, genauso wie der Rest ihres Körpers, vom wallenden braunen Haarschopf bis hinunter zu den bloßen Füßen.
Wie sie da stand, ganz ohne Schutz zwischen sich und dem Untergrund, überlegte ich, wie wohl das Gras unter ihren Fußsohlen kitzeln musste, wie Stöckchen direkt in ihre Haut stachen, und ich ertappte mich bei der Vorstellung, wie ich sie stattdessen dort berühren würde … Vorsicht!, rief der Teil meines Verstandes, der sich am schnellsten von dem Schreck erholt hatte. Man sagte ihrer Spezies nicht grundlos nach, dass sie einen nur zu gern all seine Probleme vergessen ließ. Und sicher nicht nur die Probleme. Den Alnitak-Cluster. Die Karte. Mein Schiff! Mit einem Mal war ich mir gar nicht mehr sicher, Bumble mit meiner Übernachtung in die Enge getrieben zu haben.
Das einsame Haus am grünen See (2018)
Hrsg.: Ingrid Pointecker
Verlag ohneohren
ISBN: 978-3-903006-77-5
Kurzgeschichte: Zwei Fenster, eine Tür
LeseprobeZwei Fenster, eine Tür – Leseprobe
So ist das halt auf dem Pluto. Man bleibt lieber ganzjährig in der gut geheizten Wohnung und genießt den Ausblick. Ich hab viel vergessen, was ich mal wusste. Schule ist verdammt lang her. Aber ich weiß noch, dass Pluto früher mal ein Planet war. Der Neunte in unserem Sonnensystem. Dann war er eines Tages kein Planet mehr. Die haben ihn eiskalt rausgeschmissen. Wir passen gut zusammen. Der verstoßene Planet und das verstoßene Mädchen.
Verfluchte Mahnmale und Gedenkstätten
(2018)
Shadodex – Verlag der Schatten
ISBN: 978-3-946381-52-5
Kurzgeschichte: Schattenspiel
LeseprobeSchattenspiel – Leseprobe
Max kniete sich hin und schaute nach dem Sockel der Statue. Es war ein steinerner Baumstumpf. Genauso superrealistisch gearbeitet wie der Rest der Skulptur. Aber nirgendwo eine Inschrift, nirgendwo eine Widmung oder Signatur.
»Dem unbekannten Baumfreund, hm?«, murmelte Max und schmunzelte.
Sein Blick ging nach oben. Aus dieser Perspektive umkränzte Licht wie ein Heiligenschein das rechte Ohr der Statue und ließ den Rest im schattigen Dunkel verschwinden. Noch ein gutes Bild. Er hob die Kamera, knipste.
»Na, was machst du denn da mit meinem Freund?«, fragte die Stimme eines Mädchens.
Max zuckte zusammen und fuhr herum. Kein Mädchen, eine Frau, verbesserte er sich. Wenn auch eine wahnsinnig junge. Mit frechen Augen und breitem Lächeln sah sie hinter der Baumgruppe hervor, von der er gerade gekommen war. Ihr Haar war braun, lang und offen. Trotz kühler Dämmerung trug sie bloß ein einfaches langes Trägerkleid. Keine Ärmel, keine Jacke … Und keine Schuhe!, fügte er verblüfft hinzu, als sie hinter den Bäumen hervortrat und sich ihm näherte. Hippie!
Er rappelte sich auf. »Deinem Freund?«
Sie blieb dicht vor ihm stehen und schaute zu ihm hoch. »Ja. Einem meiner Freunde, um genau zu sein.«
Diese frechen Augen hatten schon etwas.
»Ich besuche sie ständig. Dich habe ich hier aber noch nie gesehen.«
»Ich bin auch nur für ein Kunstprojekt hier.« Er hob und senkte die Schultern. »Licht und Schatten.«
»Licht und Schatten?« Ihr Lächeln wuchs in die Breite.
»Ja.«
»Klingt vielversprechend.«
Maschinen: Die besten Geschichten der Storyolympiade 2017/2018
Hrsg.: Martin Witzgall & Felix Woitkowski
Verlag Torsten Low
ISBN: 978-3-940036-49-0
Kurzgeschichte: Von Centauren und Menschen
– Platz 10 der Storyolympiade 2017/2018 –
Von Centauren und Menschen – Leseprobe
Der Aufprall presste mir die Lungen gegen den Rippenkäfig. Mein Kopf schlug auf den Boden, entfesselte heißen, feuchten Schmerz. Ich öffnete den Mund zu einem Schrei, aber der Sturz hatte mir die Luft genommen. Es kam kein Ton heraus. Dafür kreischte das Raumschiff um mich herum. Brüllende Alarmsignale, berstendes Metall, das wütende Zischen entweichender Atmosphäre.
Irgendetwas knirschte gefährlich, und dann rammte sich neuer Schmerz in meine Seite, glühend und schrill. Mir wurde schwarz vor Augen. Sterne torkelten unter meinen Lidern. Der Gestank von Eisen und altem Öl biss mir in die Nase. Am liebsten hätte ich mich übergeben, doch selbst dafür musste man sich bewegen können und das konnte ich nicht. Absolut nicht.
Dann Stille. Kein Kreischen mehr, der Alarm wurde blechern und leise, das Zischen verebbte, abgelöst von unheilvollem Knirschen und Knacken. Das Raumschiff war in einem Stück. Noch. Ich gebe zu, die Landung auf Proxima Centauri c hatte ich mir anders vorgestellt.
Gefangensein. Drinnen und Draußen – Kurzgeschichten (2018)
Hrsg.: Gisela Weinhändler
muc Verlag
ISBN: 978-3-9815181-7-7
Kurzgeschichte: Am Nebentisch
LeseprobeAm Nebentisch – Leseprobe
Die Frau am Nebentisch lacht. Sie ist wunderschön. Die selbstsichere Art, wie sie sich zurücklehnt und die Beine übereinanderschlägt, lässt sie furchtlos wirken. Wenn er nur näher an sie herankäme, denkt er, würde er sicher das wache Funkeln in ihren Augen sehen können. Abenteuer. Diese Frau ist Abenteuer. Und Leben.
»Wir sollten endlich den Termin festmachen«, sagt die Frau ihm gegenüber.
Wehmütig wendet er sich von der schönen Fremden ab und schaut in das vertraute Gesicht auf der anderen Seite des viel zu weißen Tischtuchs. Diese Frau ist nah genug, dass er ihre Augen sehen kann. Aber Abenteuer funkeln darin nicht. Nur Pläne und noch mehr Pläne. Keine Luft zum Atmen.
»Sicher«, erwidert er und zwingt sich zu dem langweiligen Haus-Garten-Kind-Kombi-Lächeln, das er sich in den letzten Jahren tapfer antrainiert hat.
The P-Files: Die Phönix Akten (2018)
– nominiert für den Deutschen Phantastik Preis (DPP) 2019 –
Hrsg.: Sascha Eichelberg
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-008-1
Kurzgeschichte: Wiedertod
LeseprobeWiedertod – Leseprobe
Richard keuchte, rang um Atem und sah der Geretteten auf seiner Brust das erste Mal ins Gesicht. Sie war nicht komplett haarlos, wie er gedacht hatte, ein Kranz heller Wimpern umschloss ihre riesigen dunkelroten Augen. Sie hatte eine Stupsnase und volle Lippen, genauso durchscheinend violett wie der Rest ihres Körpers.
Richard lächelte sie an. »Vorsicht! Beinahe wärst du gefallen.«
Das Wesen sagte kein Wort. Ob es ihn verstand?
»Hi«, versuchte Richard es noch einmal. Er setzte sich auf und streckte der Unbekannten behutsam seine rechte Hand entgegen. »Hi, ich bin Richard. Richard Miller von der Erde. Also ein Mensch. Oh Mann, ich bin nicht gut in Erstkontakten.« Er grinste. »Aber hi!«
Das Wesen legte den Kopf schief, musterte ihn und antwortete dann mit hoher, sanfter Stimme. »Phoebe.«
Richard machte große Augen. Sie sprach tatsächlich!
»Ich ist«, sie holte tief Luft, »Phoebe.« Es klang angestrengt. So als müsste sie sich die Kraft für jede einzelne Silbe erkämpfen.
»Freut mich, Phoebe. Und ein Hallo von der gesamten Menschheit!«
Okernebel: Phantastisches aus Braunschweig (2018)
Hrsg.: Laura Kier, Nele Sickel
& Stephanie Lammers
ISBN: 978-3-746089201
Kurzgeschichten: Augenblick; Till, we meet again!
Augenblick – Leseprobe
»Der Zeitplan ist heute ganz besonders eng.«
Die abgespannte Stimme zu meiner Linken war mir vertraut genug, um aus dem allgemeinen Stimmengewirr des belebten Marktplatzes herauszustechen, auch wenn ich sie nicht gleich zuordnen konnte. Automatisch blickte ich mich nach dem Sprecher um.
Da ging er, direkt an mir vorbei. Graues, kurz geschnittenes und doch leicht wirres Haar. Fast ordentlich rasiert. Wetterfeste Kleidung, modisch, aber abgetragen und irgendwie immer leicht in Unordnung – ohne dass ich so recht den Finger hätte darauflegen können, woran der Eindruck lag.
Hastig wandte ich mich ab. Ja, natürlich kannte ich den Mann – vom Sehen, wie vermutlich jeder in der Stadt. Es war der Verrückte, der fortwährend mit sich selbst sprach, so als hätte er ein Headset auf und wäre wichtig. Nur war da eben kein Headset.
»Musst du mich derart hetzen? Es ist ja nicht so, als würden wir hier die Welt retten.«
Ich sah noch einmal hin und fixierte im Vorbeigehen sein Ohr. Nein, kein Headset, wirklich nicht.
Ich wollte schon wieder wegschauen und endlich zu meinem Sitzplatz am Brunnen gehen, da nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sofort schnellte mein Blick zurück. Da! Auf seiner Schulter, direkt unter dem Ohr, das ich eben noch angestarrt hatte, regte sich etwas. Ein Schemen oder … vielleicht auch nur ein Teil seiner Jacke oder … Ich kniff die Augen zusammen. Nein, dort saß etwas! Wirklich. Ein … ein Wesen!
Till, we meet again! – Leseprobe
Ich erreiche den Gehweg und will gerade ansetzen, das Wohnhaus zu umrunden, da höre ich wieder Schritte. Ich sehe nach hinten. Die Straße ist leer. Als ich mich umdrehe, steht auf einmal ein Mann vor mir.
Verdattert stoppe ich und sehe ihn an. Komischer Vogel irgendwie. Im schummrigen Dämmerlicht kann ich sein Alter nicht schätzen. Sein Gesicht ist schmal, die Nase markant, die Augen umrahmt von Lachfalten. Es ist kühl und doch trägt er nichts weiter als Jeans und einen dünnen, knallgelben Pullover. Er sieht mich an – nicht so wie man einen Passanten ansieht, eher so wie einen alten Bekannten, den man zwar wiedererkennt, aber spontan einfach nicht einordnen kann. Trotzdem lächelt er, als würde ihn die Begegnung freuen. Als wäre er schon zu lange allein.
Ich sehe diesen Blick und trete einen Schritt beiseite. Der Mann folgt mir mit einer minimalistischen Drehung.
»Entschuldigung«, murmele ich verärgert. Ich kenne ihn definitiv nicht und ich habe keine Lust auf solche Spielchen.
»Was denn?«, fragt der Mann. Seine Stimme ist höher, als ich vermutet hätte, aber nicht unangenehm. »Du hast mir doch nichts getan, oder? Was gäbe es also zu entschuldigen?«
Phantastische Sportler (2018)
Hrsg.: Wolfgang Schroeder & Markus Heitkamp
Verlag Torsten Low
ISBN: 978-3-940036-46-9
Kurzgeschichte: Muse 5.0
– nominiert für den Deutschen Science-Fiction-Preis (DSFP) 2019: Platz 7 –
Leseprobe
Ihre Münder trafen sich zum Kuss. Leidenschaftlich, beinahe gierig legte er einen Arm um ihre Taille, den anderen in ihren Nacken und zog sie näher. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging. Seine Kraft. Doch die Art, wie er sie hielt, ließ sie begreifen, dass er nicht vorhatte, sie diese Begegnung überleben zu lassen. Maya tupfte den Schwamm gleichmäßig über ihr Gesicht. Nach und nach verschwanden die letzten Flecken brauner menschlicher Haut unter einer orangeroten Farbschicht. Ihre Verwandlung war nun beinahe abgeschlossen. Sie hatte sich ihrer dichten, dunklen Locken entledigt und sowohl Schädel als auch Augenbrauen rasiert, sogar die Wimpern gezupft. In ihren Augen leuchteten goldene Kontaktlinsen, die ihren Pupillen eine geschlitzte, reptilienartige Form verliehen.Muse 5.0 – Leseprobe
Sie trug ein anthrazitfarbenes Kleid, dessen langer, weiter Rock ihre Beine komplett verdeckte und das Augenmerk auf ihre schmale Taille und den geschwungenen Brustkorb lenkte – die Körperpartien, die Menschen und Briaden gemeinsam hatten. Am Gürtel des Kleides befestigte sie ihre Ausrüstung: ComPad samt Scanner, Störsender und gefälschten ID-Chip. Dann verbarg sie ihre Hände unter langen dreifingrigen Handschuhen und ließ schließlich ihr Gesicht im Halbschatten der übergroßen, gesteiften Kapuze ihres schwarzen Mantels verschwinden.
Ein finaler Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie ihr Ziel erreicht hatte: In dieser Aufmachung war sie von einer Briade nicht mehr zu unterscheiden.
Märchen aus 1001 Nacht Update 1.1: Wer braucht schon einen Dschinn? (2018)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-3-95959-104-1
Kurzgeschichten Eine bucklige Verhandlung
LeseprobeEine bucklige Verhandlung – Leseprobe
Ali P. mir gegenüber kauert zusammengesunken wie ein trauriger Schluck Wasser an seinem Tisch. Beinahe tut er mir leid. Aber nur beinahe. Immerhin hat er einen Menschen getötet.
Der Richter lässt Fotos vom Mordopfer über Anklage- und Verteidigungsbank gehen. Es sind furchtbare Bilder. Yasin R. war gewiss nie ein schöner Mann. Klein, bucklig. Aber wahnsinnig jung, fast noch ein Kind. Und dann so zugerichtet. Die Schwellungen und blauschwarzen Hämatome machen es schwierig, ihn auch nur anzusehen. Wie sehr der Arme gelitten haben muss, ehe er starb! Und warum zur Hölle das alles?
Genau das fragt der Richter gerade Ali P.
Und Ali antwortet. »Es tut mir leid«, sagt er und starrt auf seine Hände. »Ehrlich! Wissen Sie, in der Kneipe haben sie mir mein Portemonnaie geklaut. Ich hab’s direkt gemerkt und bin raus. Meine Kumpels mussten meine Rechnung für mich zahlen. Jetzt hab ich Schulden und muss ‘nen neuen Führerschein beantragen. Ich war stinksauer!«
Er schaut zum Richter auf, fast flehend. Doch der schweigt.
»Als ich rauskam, lehnte dieser Typ in einer dunklen Seitenstraße. Es sah aus, als würde er sich verstecken, Mann! Und ich dachte, ich hätte ihn schon drinnen gesehen, also musste er doch der sein, der meine Sachen geklaut hat, oder? Hätte doch jeder gedacht!«
Diesmal geht sein Blick zu mir. Er will, dass ich ja sage, aber den Gefallen tue ich ihm nicht. Das gehört sich nicht für einen Staatsanwalt.
»Also bin ich hin. Ja, er stand mit dem Rücken zu mir, aber ich hab ihn nicht überfallen. Ich hab gesagt: Gib mir mein Zeug wieder, du Arschloch!«
Mit gerunzelter Stirn nehme ich den Anklagepunkt Beleidigung in meine mentale Liste auf.
»Ich konnte ja nicht wissen, dass er meine Sachen tatsächlich gar nicht hatte. Er hat nichts gesagt. Und als er sich weiter so abduckte, dachte ich, das beweist es, und hab ihm eine verpasst.«
Wieder Schweigen.
»Eine?«, fragt der Richter endlich. Es ist beeindruckend, zu sehen, wie neutral seine Miene dabei bleibt. Keine Spur von Sarkasmus. Dabei haben wir alle die Bilder gesehen.
Ali P. rutscht unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Sein Verteidiger flüstert ihm etwas zu. Vermutlich, dass lügen gar keinen Sinn mehr hat. Das ist es, was ich ihm sagen würde. Die Sache ist glasklar. Ein Geständnis kann ihm nur noch nutzen.
»Naja«, sagt Ali und starrt wieder auf seine Hände. »Es waren schon ein paar mehr. Vielleicht auch eine oder zwei gegen den Kopf, aber nicht fest, ehrlich nicht. Der Typ ist einfach plötzlich umgekippt und war tot. Ich hab keine Ahnung, wieso. Das hätte nicht passieren dürfen!«
Der Richter nickt langsam, fragt, ob Ali noch etwas ergänzen will. Will er nicht. Da wandert der Blick des Richters zu mir. Ich schüttle den Kopf. Keine Fragen mehr. Der Fall ist sowas von eindeutig.
»Er hat ihn nicht getötet! Ich war es!«
Was?! Mein Blick fährt herum, sucht die Zuschauerbank ab, aus der die Stimme gekommen ist. Da steht ein untersetzter Kerl in Jeans und T-Shirt und knetet nervös die Hände.
Schweigen im Saal. Alle starren ihn an. Hat der das gerade wirklich gesagt? So etwas gibt es doch nur im Fernsehen.
Spliff 85555: Ebersberg (2018)
Hrsg.: Gerhard Schneider
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-119-8
Kurzgeschichte: Keine Asche
LeseprobeKeine Asche – Leseprobe
Miles scharrt wieder mit den Füßen. »Kommst du jetzt oder was? Die warten.«
»Die Frage ist nur, worauf eigentlich«, murmle ich, während ich die Hände auf die Armlehnen stütze und mich nach oben stemme. Den Raumanzug samt Kapuze und durchsichtigem Visier trage ich schon. Er ist nicht so klobig und schwer wie die aus den alten Tagen, aber immer noch unangenehm genug, um meiner Stimmung nicht zuträglich zu sein.
»Was auch immer es ist, sie werden uns schon nicht fressen wollen«, meint Miles fröhlich.
Ich gehe zu ihm und runzle die Stirn. »Sicher? Einladung und diese Koordinaten hier. Mehr haben wir nicht. Einladung zum Essen ist gar nicht so ungewöhnlich. Und falls wir zufällig schmecken, wer weiß …«
»Alter Schwarzmaler! Es ist ein Wunder, dass sie ausgerechnet dich für den historischen Erstkontakt ausgewählt haben.«
Ich zucke die Schultern. »Ich mache mich halt gut auf Fotos.«
Miles lacht.
Ich beschränke mich auf ein nervöses Lächeln. »Was meinst du, was erwartet uns da gleich?«
»Bei den dunkeln Wolken, durch die wir durch sind, tippe ich auf einen Haufen Vulkanleute. Steinerne Körper, glühende Augen, überall Asche und Rauch. Wie im Film.«
Buch Berlin Geschichten 2017:
30 Autoren – 30 Geschichten (2017)
Kurzgeschichte: Gelb
Vollständige GeschichteGelb
Gelb. Gelb ist die Farbe, in der sie lügt.
Das geht mir jetzt seit über eine Stunde durch den Kopf. Seit über eine Stunde schweigen wir. Starren auf graue Bildschirme.
Ich blicke zu ihr hinüber. Sie schaut mich nicht an und sie sagt nichts, deshalb ist sie jetzt auch nicht gelb. Sie ist Orange. Nicht Abendrotorange sondern Feuerorange, Warnwestenorange. Ihr Orange bedeutet Wut.
Ich bin auch wütend.
»Sie waren wirklich da«, fängt sie wieder an.
Ich verdrehe die Augen.
»Wirklich!« Ihr Orange flackert. Beige Verzweiflung mischt sich darunter. Vielleicht sind auch wieder ein paar gelbe Sprenkel dabei.
Ich sage nichts.
Sie zeigt auf den Monitor, wo die Radarlinien sich wellenförmig ausbreiten, ohne auf irgendetwas zu stoßen. »Genau hier am Rand. Dreieckig wie in diesen alten Filmen. Star-irgendwas. Das war nichts Irdisches, echt nicht! Wieso bist du nicht aufgeregt? Wieso willst du mir nicht glauben?«
»Ich will schon, aber …«
»Aber ich war gelb?« Es ist keine Frage, es ist ein Vorwurf.
Ich nicke trotzdem.
»Das ist doch …«
»Du warst noch nie vorher gelb.«
»Und?« Sie ballt die Hände zu Fäusten.
»Wäre es echt, du würdest dich freuen. Zur Hölle, wir beide würden das!«
»Tue ich doch!«
»Wenn du dich freust, richtig aus vollem Herzen freust, bist du lila. Du bist immer lila gewesen.« Ich denke an unseren ersten Kuss, den Wochenendausflug nach Berlin, die erste Nacht zu zweit. Sie war immer lila.
Jetzt ist sie türkis. Trauer.
Ich weiß, ich sollte sie trösten wollen. Aber ich will nicht. Ich will nur weg. Ich glaube, innerlich habe ich schon mit uns abgeschlossen.
Sie nicht. »Woher weißt du, dass gelb für lügen steht? Hab ich dich je belogen?«
»Nein«, entgegne ich müde. »Das ist es ja. Du warst auch noch nie gelb.«
»Was ist mit anderen? Du siehst doch alle so bunt. Haben die dich denn auch nie belogen? Deine Mutter? Früher über den Weihnachtsmann? War die da auch gelb?«
Ich schüttle den Kopf. »So funktioniert das nicht, das weißt du doch. Meine Mutter hat ganz andere Farben. Alle haben ganz andere Farben! Wenn meine Mutter verzweifelt ist, so wie du jetzt, dann ist sie grün. Du bist grün, wenn du schlechte Laune hast. Jetzt nicht. Jetzt bist du beige.«
»Das ist doch Schwachsinn!«, ruft sie.
Noch eine Beleidigung. Erst beleidigt sie meine Intelligenz, meiner Arbeit – unsere Arbeit! – indem sie Raumschiffe meldet, wo keine sind. Uns damit beide lächerlich macht. Und jetzt nimmt sie meine Sinne Schwachsinn. Ich weiß nicht, ob ich ihr jemals verzeihen werde.
Wir schweigen wieder.
Ich kann die Bildschirme nicht mehr sehen. Daher beobachte ich sie in ihrem zornig verzweifelten Beigeorange, während lila Erinnerungen schmerzhaft an mir vorbeiziehen. Wir waren glücklich. Wieso macht sie das? Wieso sabotiert sie, was wir haben? Wieso stößt sie mich so von sich? Wirklich nur für einen Scherz? Kann es das wert sein?
Ihre Farben flackern wieder. Hellblaue Aufregung mischt sich ins Beige. Ein paar Funken Gelb.
Ich schaue sie noch einen Moment an, dann wandert mein Blick zum Monitor. Dort regt sich etwas!
Dreiecke, wie sie gesagt hat. Vier davon!
Ich starre hin, schüttle den Kopf, starre weiter. Das kann doch nicht …
»Siehst du?«, jubelt sie neben mir. »Siehst du? Ich hatte recht!«
Das hatte sie. Ich traue mich nicht, sie anzusehen. Außerdem ist mein Blick immer noch vom Monitor gebannt. Viel zu groß ist die Angst, auch nur eine Sekunde von diesem historischen Augenblick zu verpassen.
Sie greift meine Hand. »Sie sind da! Sie sind da und sie sind echt! Ich wusste es!«
Ich drücke ihre Hand und alles ist verziehen.
Lange sitzen wir da. Machen Aufzeichnungen, rufen die richtigen Leute an. Ich lasse den Bildschirm nicht aus den Augen, bis die Schiffe, die UFOs oder wie auch immer man sie nennen möchte, wieder aus unserem Radarbereich verschwinden. Jetzt sollen andere sie weiterverfolgen. Wir haben unseren Beitrag geleistet. Ich kann kaum erwarten, was als nächstes kommt.
Aber noch kann die Forschungswelt warten. Noch haben wir einen Moment für uns.
Ich reiße mich endlich los, wende mich zur Seite, sehe sie an. Sie hat sich nicht lustig über mich gemacht, mich nicht belogen. Ich lächle sie an, drücke noch einmal ihre Hand. »Bitte verzeih mir!«
Sie nickt. Der Moment ist zu groß, um zornig zu sein. Sie strahlt. Und sie leuchtet gelb dabei. Sie lügt nicht, diesmal weiß ich es. Wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben und sie ist glücklich. Sie freut sich. Wirklich und wahrhaftig.
Ich stocke. Aber wenn Gelb Freude ist, was ist dann … Nein!
Ehe ich mich versehe, bin ich aufgesprungen und habe zwei Schritte zurück gemacht. »Es ist aus«, höre ich mich sagen.
Sie schaut auf den Monitor, auf dem immer noch die Radarwellen pulsieren und dann verwirrt wieder zu mir. »Quatsch, das ist doch wie sons… Oh!« Beige Verzweiflung.
»Es ist aus!«, wiederhole ich noch einmal. Fester diesmal.
»Was?« Sie steht auf, schüttelt den Kopf. »Was? Nein!«
Wir starren einander an.
Sie macht einen Schritt auf mich zu, greift nach meiner Hand. »Mach keinen Unsinn! Ich liebe dich doch!«
Lila.
Absinth: Geschichten im Rausch der Grünen Fee (2017)
– nominiert für den Deutschen Phantastik Preis (DPP) 2018 –
Hrsg.: Grit Richter
Art Skript Phantastik Verlag
ISBN: 978-3-945045-11-4
Kurzgeschichte: Das dritte Glas
LeseprobeDas dritte Glas – Leseprobe
Nichtsahnend von den Dingen, die in Oscar vorgingen, stand der Mann in Grün auf. Unverändert lächelnd trat er zu dem Schriftsteller hinüber und beugte sich vor.
»Sie sind allein in einem vollen Raum«, sprach er mit dem Hauch eines Dialekts, den Oscar mit seiner Heimat und seiner Jungend verband. »Sind Sie so langweilig?«
»Ganz im Gegenteil. Ich bin gerade interessant genug. Es sind die faden Menschen, die niemals Zeit in ihrer eigenen Gesellschaft zubringen wollen.«
»Dann bin ich hier richtig«, entgegnete der Mann in Grün und seine Augen leuchteten.
Ungefragt zog er sich einen Stuhl heran und nahm Oscar gegenüber am Tisch Platz. Der Schriftsteller hätte protestieren können, doch er tat es nicht.
»Richtig ist ein großes Wort«, sagte er stattdessen. »Nur wenige werden ihm gerecht.«
»Und niemals die, die sich seiner rühmen.« Das Lächeln des Fremden war ungebrochen. »Sagen wir also lieber, es könnte mir hier gefallen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Vielleicht ist es Neugier.«
»Wenn es Neugierde ist, die Sie an meinen Tisch treibt, dann sollten Sie zusehen, dass Sie sich schnellstmöglich von dannen machen. Es sind die Geheimnisse, die dem Leben heutzutage noch etwas Wunderbares verleihen. Das Alltäglichste wird zum Abenteuer, wenn man es nur verbirgt. Leider wird andersherum auch das größte Abenteuer alltäglich, wenn man es enthüllt.«
»Davon, dass Sie sich enthüllen sollen, habe ich bisher gar nichts gesagt.« Das Lächeln des Fremden wurde zum schweigenden Versprechen.
Wenn das rauskommt … (2017)
Hrsg.: Sarina Stützer & Sabine Cremer
Schreiblust-Verlag
ISBN: 978-3-9816481-8-8
Kurzgeschichte: Kleine Steine
LeseprobeKleine Steine – Leseprobe
»Wenn das rauskommt, haben wir ziemlich große Probleme!«, hatte Xiri gesagt. Damals, bei ihrem ersten Ausflug.
Tamke hatte nur gelacht. »Wer soll das schon rausbekommen?«, hatte sie gefragt. »Es geht doch nur um ein paar Kiesel. Reg dich ab!«
Darauf hatte Xiri einen der länglichen grauen Steine aufgehoben und behutsam auf ihrer Hand gewogen. Noch heute erinnerte sich Tamke genau an den Ausdruck in ihrem Gesicht: Die Stirn konzentriert in Falten gezogen, die Lippen aufeinander gepresst, als wolle sie ihre Zweifel krampfhaft davon abhalten, sich in Worte gewandet nach draußen zu wagen, die Augen schnurgerade auf den kleinen Stein gerichtet. »Einen Kiesel würde ich das hier nicht nennen«, hatte sie in dem ihr ureigenen Ernst geantwortet, der sie immer befiel, wenn sie sich Sorgen machte.
Als sie Xiri so hörte, war Tamke die Lust an Spott und Schabernack fast vergangen. Aber nur fast. Mit einem warmen Lächeln, bar jeder Ironie, hatte sie die Hand nach ihrer Freundin ausgestreckt und ihr sanft die Schulter getätschelt. »Niemand wird es merken. Versprochen!«
Da hatte Xiri ihren Blick von dem Stein in ihrer Hand gelöst und zurückgelächelt. Tamke war erleichtert gewesen. Erleichtert, Xiri aufgemuntert zu haben. Um den Rest hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Damals hatte sie wirklich geglaubt, dass die Sache im selben Moment
enden würde, in dem sie begonnen hatte. Dass sie niemals wieder zu diesem primitiven Planeten und ihrer kleinen Dummheit zurückkehren würden. Sie hatte sich geirrt. »Wir sind gleich da«, sagte Xiri und riss Tamke damit aus ihren Gedanken.
Tamke blickte auf und zur Seite. Sie beobachtete Xiris achtfingrige Hände auf den leuchtenden Steuerkontrollen des Raumschiffs. »Echt? Jetzt schon?«
»Klar!«, erwiderte Xiri. »Das hier ist viel schneller als unsere Seifenkiste vom letzten Mal. Fliegt sich auch ganz anders.«
Grinsend programmierte sie einen Looping ein und gleich darauf fühlte Tamke das leichte Ziehen im Magen, das ihr anzeigte, welchen Fliehkräften sie bei diesem Tempo ausgesetzt waren. Sie schickte ein kurzes Stoßgebet in Richtung der Trägheitsdämpfer und dankte ihnen dafür, dass sie hielten.
»Ich weiß, ich weiß«, rief Tamke und wedelte mit einer Hand vor sich durch die Luft, um ihre Freundin von weiteren Demonstrationen ihrer Flugkunst abzuhalten. »Ich bin nicht doof. Ich weiß auch, dass wir dieses Schiff schon damals hätten haben können, hätten wir nur schon mit den Händen an die Kontrollen herangereicht. Das ist es nicht. Es hat mich nur überrascht, dass das Ding hier tatsächlich so schnell ist.«
»Jaja«, lenkte Xiri ein. »Schon gut. Was sagen die Sensoren? Ist irgendwas zu sehen?»
Tamke biss sich auf die Unterlippe und ließ ihre Finger über ihre eigene Konsole gleiten. Der Schiffscomputer beantwortete ihre Anfragen mittels bunter, blinkender Grafiken auf dem Bildschirm zwischen ihren Händen.
»Oh, verdammt!«, entfuhr es ihr.
The U-Files: Die Einhorn Akten (2017)
– Deutscher Phantastik Preis (DPP):Beste Anthologie 2018 –
Hrsg.: Sandra Florean
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-98178-296-7
Kurzgeschichte: Billy O’Mally begegnet einer Bestie
LeseprobeBilly O'Mally begegnet einer Bestie – Leseprobe
Billy gönnte sich einen Blick, ehe er endlich zu sprechen begann. »Ihr wärt auch spät, wenn euch widerfahren wäre, was mir heute Abend widerfahren ist. Mehr noch sage ich: Ihr könntet froh sein, wenn ihr überhaupt hier wärt. Ich bin’s jedenfalls.« Damit schnaufte er und tupfte sich ein drittes Mal seine Stirn.
Die drei anderen machten große Augen.
»Um Himmels Willen, was ist denn nur passiert?«, fragte Kathy. Donald und Tom nickten.
»Ich«, begann Billy, eher er noch einmal tief Luft holte. »Ich bin dort draußen gerade noch so einer Bestie entkommen.«
»Einer Bestie?«, staunte Donald. »Was denn für einer Bestie?«
Billy beugte sich vor und setzte zum Sprechen an. Dann aber, noch ehe die erste Silbe seine Lippen überquert hatte, hielt er inne. »Erst ein Bier«, sagte er und langte in seine Tasche. Dort ließ er seine Hand und sah die drei der Reihe nach an. »Oder ihr ratet. Wer errät, was für einem Untier ich heute Abend im Wald begegnet bin, direkt vor der Türe, dem gebe ich sein Bier aus. Errät es keiner von euch«, er sah zu Kathy, »bekomme ich meines auf Kosten des Hauses. Ist das ein Wort?«
Winterstern (2017)
Hrsg.: C.M. Spoerri
Sternensand Verlag
ISBN: 978-3-906829-32-6
Kurzgeschichte: Getäuscht
LeseprobeGetäuscht – Leseprobe
Wie beiläufig legte sie den rechten Arm so mit der Handfläche nach oben auf den Tisch, dass er den Griff des Messers erahnen könnte, der sich unter dem Ärmel verbarg – wenn er denn hinsah.
Doch der Fremde schaute nicht hin. Er musterte weder ihre Hände noch die Falten in ihrer Kleidung. Spähte nicht nach versteckten Waffen, wie es klug gewesen wäre in einer Gesellschaft wie dieser. Stattdessen sah er ihr immer noch staunend ins Gesicht.
»Winterstern?«, fragte er schließlich.
Was? So einfach? Margaretha ergriff die Gelegenheit und nickte. Sie hatte damit gerechnet, ihn davon überzeugen zu müssen, dass sie besser war als die Person, auf die er hier wartete. Aber eine Verwechslung machte es ihr natürlich umso leichter.
Weltentor: Science Fiction (2016)
NOEL-Verlag
ISBN: 978-3-95493-188-0
Kurzgeschichte: Wände
LeseprobeWände – Leseprobe
Ich stütze beide Hände auf, drücke mich ab und lasse mich halbwegs sicher auf beide Füße fallen. Sie kribbeln noch, aber sie tragen mich. Ich recke die Arme in die Höhe und strecke mich. Dann lasse ich erneut den Blick wandern und überlege, ob ich erst eine der anderen Kapseln oder erst die Wände unter die Lupe nehmen soll.
Ich entscheide mich für die Kapseln und gehe näher an eine davon heran. Ihr Bildschirm ist online und zeigt verschiedene Werte an. Die meisten stehen auf null, einer ist bei minus einhundertfünfzig. Hm, denke ich. Ein paar Schritte weiter zeigt die nächste Kapsel dieselben Werte. Genauso die nächste und übernächste. Ich runzle die Stirn. Was zur Hölle macht man mit einer Anzeige, die einem kaum etwas anderes als Nullen präsentiert?
Ich überlege gerade, ob ich es wagen kann, blind irgendwelche Knöpfe zu drücken, als ein Zischen mich herumfahren lässt. Die Wand hinter mir teilt sich und gleitet auf wie eine riesige automatische Tür aus einem Kaufhaus. Es gibt also doch einen Ausgang! Gespannt sehe ich hin.
Hinter den Wänden kommt eine einzelne Gestalt zum Vorschein. Sie tritt näher und entpuppt sich als ein Mann mit weißem Kittel, grauem Bart und schwindendem Haaransatz. Entschlossen, aber ohne Hektik geht er auf mich zu. Auf einmal bin ich mir meiner fehlenden Kleidung wieder sehr bewusst. Ich werde rot und bedecke mich notdürftig mit den Händen.
»Frau ähhh …«, begrüßt der Mann mich unsicher.
»Weigert«, helfe ich ihm aus. »Kathrin Weigert.«
Weltentor: Fantasy (2016)
NOEL-Verlag
ISBN: 978-3-95493-186-6
Kurzgeschichte: Liebe
LeseprobeLiebe – Leseprobe
»Ich liebe dich«, sagt der Frosch auf meiner Fensterbank.
Ich starre ihn an. Bevor ich mich für die Nacht fertig gemacht habe, habe ich das Fenster zum abendlichen Lüften geöffnet und nun sitzt er da, während hinter ihm zwei Sterne durch die grauschwarzen Wolken funkeln.
»Überrascht?«, fragt er.
Ich nicke.
»Gut so!« Er grinst. – Ein grinsender Frosch, wirklich ein verstörendes Bild … »Überraschungen sind gut. Langeweile ist ja der Tod jeder Beziehung.«
Ich starre weiter. »Welche Beziehung?«, höre ich mich nuscheln. – Wirklich? Welche Beziehung? Das ist meine Frage?
Der Frosch zuckt mit den Schultern. – Noch ein verstörendes Bild. »Unsere natürlich.«
»Wir haben keine«, stelle ich klar.
Er nickt. »Bisher nicht, das stimmt. Leider. Aber ich liebe dich!«
»Wie …« Ich schüttle den Kopf und versuche, mich auf die wichtigen Fragen zu konzentrieren. »Wie kommst du hierher?«
»Gehüpft?«, antwortet er und grinst wieder.
»Das meinte ich nicht.« Ich weise nach draußen. »Wir sind hier im vierten Stock.«
»Oh, ach so.« Das Grinsen bleibt. »Dafür reicht das Hüpfen selbstverständlich nicht. Sagen wir: Liebe verleiht Flügel?«
Ich runzle die Stirn. Kurz ertappe ich mich bei der Befürchtung, er könnte es wörtlich meinen. Ich strecke mich und mein Blick wandert auf seinen Rücken. Doch der ist nichts weiter als grün. Keine Flügel. Ich atme auf.
Der Frosch beobachtet mich und verdreht die Augen. »Ich hab natürlich nicht wirklich welche. Ich dachte, das wäre klar. Schon mal einen geflügelten Frosch gesehen?«
Ich schüttle den Kopf. »Allerdings auch noch keinen sprechenden.«
»Bin ja auch keiner«, meint er da und hüpft über das Fensterbrett auf mich zu.
»Nicht? Aber du …«
»Natürlich nicht! Ich bin ein verwunschener Prinz. Liest du denn keine Märchen?«
Weltentor: Science Fiction (2015)
NOEL-Verlag
ISBN: 978-3-95493-093-7
Kurzgeschichte: Vom Himmel hoch
LeseprobeVom Himmel hoch – Leseprobe
»…Ich wiederhole: Die Polizei bittet alle Personen darum, in den nächsten Stunden nicht das Haus zu verlassen. Es besteht womöglich Verletzungsrisiko…«
»Superschnelle Kometen… könnte eigentlich ziemlich cool werden, hm?«, meinte Oti und versuchte, die Unsicherheit in seiner Stimme zu überspielen.
Wieder verdrehte Kai die Augen: »Ja, wirklich ganz toll.«
Oti zuckte die Schultern. Er drehte den Ton der Nachrichtensendung hoch, stand auf und trat an das große Wohnzimmerfenster. »Vielleicht sieht man ja was.«
Kai wollte eine genervte Antwort geben und ihr Telefonat wieder aufnehmen, aber so ungern sie es sich eingestand: Auch sie war unruhig. Also folgte sie ihrem Bruder.
Am Tag gehörte der Ausblick aus dem Wohnzimmerfenster zu den wenigen Vorzügen, die Kai dem ländlichen Leben ihrer Familie zugestehen musste. Eine große Wiese gesäumt von geraden Reihen schmaler Bäume erstreckte sich hinter dem Haus. Im Frühjahr und im Herbst wurde sie manchmal als Weide für verschiedene Tiere genutzt. Im Sommer wuchsen Wildblumen darauf und der Wind malte wellenförmige Muster in das hohe Gras. Nun aber war es stockfinster und von der Wiese nicht mehr zu sehen als ein paar graue Schemen im Wiederschein des Lichtes, das aus dem Haus drang. Der Blick war gelinde gesagt unspektakulär.
Kai richtete ihre Augen gen Himmel. Der Nachthimmel hatte seinen üblichen Farbton irgendwo zwischen blau und schwarz. Es hingen ein paar Wolken dort oben und dazwischen ein paar Sterne. Alles in allem war es nicht spannender als der Blick auf das graue Gras.
»Und worauf genau warten wir jetzt?«, fragte Kai nach ein oder zwei Minuten des Schweigens.
Oti deutete ein Achselzucken an: »Vielleicht so etwas wie Sternschnuppen.«
»Hm«, brummte Kai und war sich selbst nicht sicher, ob sie damit Zweifel oder Zustimmung zum Ausdruck bringen wollte.
Wieder schwiegen sie. Die Nachrichtensprecherin im Hintergrund erklärte zum fünften, sechsten und siebten Mal, dass die Leute in ihren Häusern bleiben sollten. Sonst passierte lange Zeit nichts.
Gerade als Kais Langeweile drohte, über ihre Neugierde zu siegen, änderte sich etwas am Himmel. Einer der Sterne schien zu wachsen und ein wenig zu flackern. Kai zwinkerte und überlegte, ob sie sich das Gesehene nur einbildete. Es konnte unmöglich gut sein, zu lange an eine Stelle zu starren. Vielleicht spielten ihre Augen ihr nun einen Streich. Doch da stieß Oti sie an und zeigte genau in die Richtung, in der sie das Flackern zu sehen geglaubt hatte. »Siehst du?«, raunte er aufgeregt. »Da! Da bewegt sich was.«
Kai nickte und fuhr sich angespannt über die Brauen, als das Licht weiter wuchs: »Eine Sternschnuppe ist das nicht…«
Zeitschriften
Zwielicht 17 (2022)
Hrsg.: Achim Hildebrand & Michael Schmidt
ISBN: 979-8831476736
Kurzgeschichte: Alina
LeseprobeAlina – Leseprobe
Tage, die mit frühen Vorlesungen über angewandte Marktwirtschaft starten, werden eigentlich nie gut. Tage, an denen man beim Betreten des stickigen Audimax Alinas Blümchentasche allein und verloren in der dritten Reihe vorfindet, könnten da die prickelnde Ausnahme bilden.
Auch wenn ich für so etwas normalerweise kein Auge habe – ich bin ja nicht schwul oder so –, bin ich mir sicher, dass es Alinas Tasche ist. Es ist das gleiche klobige Ding, mit dem sie neulich auf der WG-Party der Mediziner mein Bier umgestoßen hat. Da kamen wir das erste Mal richtig ins Gespräch. Und es war echt nett. Verdammt nett sogar.
Heute will es nun also die Fügung, dass ich mich ganz zufällig neben sie setzen kann. Woher soll ich denn wissen, wessen Zeug da steht, richtig?
Ich nehme mein Telefon aus der Hosentasche und lasse mich auf den unbequemen Klappsitz direkt neben Alinas fallen. Die Scharniere quietschen, das Holz knarzt. Beides geht im Stimmengewirr meiner Kommilitonen nahezu unter.
Genau wie das Vibrieren des Telefons.
Meins ist das nicht.
Ich schaue mich um und mein Blick bleibt abermals an Alinas Blümchentasche hängen. Dort drinnen rattert und summt es. Gleich oben auf. Ein Handy im Blümchen-Case passend zur geblümten Tasche. Ich fasse es ja nicht! Ein bisschen geschmacklos ist das schon, aber falls Alinas feuerwehrrote Lippen nur halb so gut küssen wie sie über die neuste Folge des Bachelors ablästern können, ist mir das herzlich egal.
Ein flüchtiger Blick nach vorn: Noch kein Professor. Zur Seite: Noch keine Alina.
Ich greife nach ihrem Handy, gerade als das Vibrieren verstummt.
Ein verpasster Anruf von Jenny. Wer war noch gleich Jenny? Die Niedliche mit den Waschbäraugen oder die Alberne mit der Zahnlücke? Egal.
Vierstellige PIN. Vier Stellen …
Ich ziehe den Kalender meines eigenen Telefons zu Rate.
Weltenportal Nr. 2 (2021)
Hrsg.: Christoph Grimm
Kurzgeschichte: Ein bodenständiger Job
LeseprobeEin bodenständiger Job – Leseprobe
»Ausweichkurs!«, schrie Captain Smith über das Heulen der Sirenen hinweg und grub ihre Finger in die gepolsterten Armlehnen. »Bringen Sie uns in den verdammten Nebel!«
Die Raumschiffbrücke stank nach Qualm, die Lichter flackerten bedrohlich. Auf dem Hauptschirm wurden Sterne langsam aber sicher von einer grüngrauen Masse verschluckt.
»Wir sind jetzt im Nebel«, verkündete Commander Baker von der Steuerkonsole aus.
»Gut. Und unsere Verfolger?«
»Drehen ab! Wir sind allein.«
»Das wollte ich hören, Mr. Baker.« Smith schaute zur Taktik. »Alarm aus. Status des Schiffs, Lieutenant O‘Mara?«
Der Angesprochene betätigte einige Schaltflächen und ließ die Sirenen verstummen. »Schilde und Waffen ausgefallen. Hyperantrieb ausgefallen, Trägheitsdämpfer ausgefallen, interne Sensoren beschädigt.«
»Und die guten Nachrichten?«
»Strukturelle Integrität und Lebenserhaltung sind stabil, Captain. Noch.«
»Was soll das denn heißen?«
O’Mara straffte die Schultern. »Das soll heißen, dass der Nebel an sich dem Schiff nicht schadet. Allerdings gibt es hier drinnen mehrere unkartografierte Phasenverzerrungsfelder. Es ist völlig unklar, was passiert, wenn das Schiff in eins davon eintaucht. Im schlimmsten Fall könnte es uns zerreißen.«
»Keine angenehmen Aussichten … Baker, voller Stopp!«
»Davon rate ich ab, bis wir die Trägheitsdämpfer repariert haben, Captain.«
»Ach verdammt! O’Mara, sehen Sie eine Chance, uns heil durch diese Phasenverzerrungen durchzubringen?«
»Bin längst dran, Captain. Ich denke, wenn wir Energie aus den Sekundärsystemen umleiten, kann ich unsere Partikelwaffen so rekalibrieren, dass sie ein der Feldphase ent…«
Das Schiff vibrierte.
»Da haben wir direkt die Erste.«
»Baker, abdrehen!«
»Aye, Ca…« Der Pilot verstummte, als direkt neben seiner Konsole die Luft flimmerte.
Die Stelle glitzerte und trübte sich. Ein leises Rauschen. Und dann stand auf einmal ein Besucher mitten auf ihrer Brücke.
Weltenportal Nr. 1 (2021)
Hrsg.: Christoph Grimm
Kurzgeschichte: Geburt
LeseprobeGeburt – Leseprobe
»Uuund – das ist Nummer zwölf.« Captain Varsa lächelte zufrieden.
Von ihrem Platz am Rande der engen Raumschiffbrücke aus beobachtete Schiffsingenieurin Ca’sirr, wie die Kapitänin ihre feingliedrige Gestalt streckte und ein paar Schritte nach vorn machte. Kurz spiegelte sie das Lächeln ihrer Vorgesetzten, dann wanderte ihr Blick zurück zum Hauptschirm. Und zu dem metallenen Objekt, das dort inmitten eines dichten, orangebraunen Nebelfeldes abgebildet war.
»Meine Damen und Herren, wir haben es geschafft«, verkündete Varsa und verschränkte ihre dreifingrigen Hände ineinander. »Alle Gravitationsverstärker sind in Position. Operation Geburtshilfe steht kurz vor ihrem Abschluss.« Sie ließ ihre Worte eine Sekunde lang wirken, dann verteilte sie die Aufgaben. Von überall aus dem orangen Nebel der Schiffsatmosphäre erklangen Bestätigungen.
Zuletzt wandte Varsa sich an Ca’sirr. »Wie lange haben wir noch?«
Die Ingenieurin betrachtete ihr Kontrollpult und streckte einen ihrer langen, fast spinnenartigen Arme nach der Schaltfläche für die Zeitanzeige aus. Gleich darauf flackerte der Countdown auf und Ca’sirr las vor: »Vierunddreißig Minuten bis zum Autostart.«
Sie hob den Kopf. Captain Varsas Silhouette im Nebel gestikulierte knappe Zustimmung.
Vierunddreißig Minuten. In vierunddreißig Minuten würden die zwölf Gravitationsverstärker ihre Arbeit beginnen und dafür sorgen, dass sich Vren I – der Himmelskörper, in dessen Innerem sie sich gegenwärtig befanden – ungewöhnlich schnell zusammenziehen würde. Endlich. Der letzte Schritt eines lang geplanten Experiments. Schon seit Wochen waren Raumschiffe hier ein- und ausgeflogen. Deutlich größere Raumschiffe als das von Captain Varsa. Sie hatten komprimiertes Gas in den Himmelskörper geleitet und so seine Masse angereichert.
Zu Beginn war Vren I ein Brauner Zwerg gewesen – irgendetwas zwischen einem Planeten und einer Sonne. Eine riesige Gasansammlung, aber immer noch nicht riesig genug, als dass es für die Fusion aus Helium und Wasserstoff gereicht hätte, die einen Stern zu einem Stern machte. Mit den Gastransporten hatten sie das nun geändert. Der kritische Wert war überschritten und Vren I würde ein Stern werden.
Haller 16: Wahre Kunst (2019)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-155-6
Kurzgeschichte: Das Meisterwerk
LeseprobeDas Meisterwerk – Leseprobe
Sieben Uhr früh schellt die Glocke zum ersten Mal. Zum ersten Mal an diesem Morgen schwingt die Tür auf, sie lässt einen Schwall eisiger Luft und das erste Werk meiner Galerie ein, dieser Galerie, zu der mich Monika Creuzberg inspiriert hat, aber dazu später mehr. Kaum schweigt die Glocke, spricht Angelina. Ich kenne ihren Nachnamen nicht. Wenn sie hier telefoniert – was sie selten tut, sie ist höflich – dann meldet sie sich nur mit dem Vornamen. Ihre weiche Stimme flattert beim Hallo am Telefon immer etwas höher als sonst. Ich mag diese Stimme, egal in welcher Tonlage. So klingen all die liebenswerten Nebenrollen in Hollywoodstreifen. Die besten Freundinnen, die chaotischen Kolleginnen und die hilfsbereiten Nachbarinnen.
»Guten Morgen«, sagt Angelina mit ihrer Nachbarinnenstimme. »Zwei Körner- und ein Zwiebelbrötchen bitte.« Ich nicke, lächle ihr zu und betrachte sie einen Moment, während ich blind die richtigen Brötchen aus der Auslage ziehe.
Das kurze blonde Haar steht ihr ausgezeichnet, ich hab’s gewusst! Es betont die Wangenknochen und den langen Hals, es kitzelt das Blau aus ihren wassergrauen Augen hervor. Es war ein hartes Stück Arbeit, sie zu dieser Veränderung zu bewegen, doch das hat sich gelohnt, keine Frage.
Eigentlich mag Angelina keine Veränderungen. Seit drei Jahren kommt sie alle paar Tage in meinen Laden und bis heute hat sie ihr Haar immer auf dieselbe Weise getragen: lang, dunkelbraun und öde. Ich musste Monate darin investieren, ihr unauffällige Hinweise zu geben, nette Komplimente, wie sie eben gerade so zwischen Tür und Angel passen. Sie strahlen heute so, wann immer sie hell gekleidet war. Wie gut Sie heute aussehen!, wann immer sie ihr Haar hochgesteckt hatte. Sie hat jedes Mal gelächelt und nun endlich hat sie auch verstanden und gehandelt.
»Neue Frisur«, bemerke ich beiläufig, während ich ihre Brötchen in die Papiertüte fallen lasse und sie ihr über die Theke reiche. »Steht Ihnen!«
Haller 15: Alte Freunde (2017)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-111-2
Kurzgeschichte: Fünfzehn Freunde
LeseprobeFünfzehn Freunde – Leseprobe
»Fünfzehn Freunde«, wiederholt er. »Sollteste haben, dann haste alles richtig gemacht.«
»Aha«, sage ich und denke: Mist, jetzt kann ich nicht mehr einfach so abhauen.
»Glaub mir, es stimmt«, sagt der Mann.
»Fünfzehn Freunde?« Ich schaue auf meine Hände.
»Genau. Vertrau nem alten Mann. Hinterher ist man ja immer schlauer. Rückblickend und so. Dann hätte man’s vorher gewusst.«
»Ah … Wieso fünfzehn?«
Der Mann rückt näher. »Wenn du erst so alt bist wie ich«, sagt er, »wird einer deiner Freunde tot sein.«
»Das tut mir leid.« Ich schaue ihn immer noch nicht an. Stattdessen kram ich mein Brötchen aus der Bäckertüte und beginne, zu essen.
»Muss es nicht«, sagt der Alte. »Denn das heißt immerhin, dass vierzehn deiner Freunde noch leben.«
»Das Glas ist halb voll, hm?«
»Wenn Bier drin ist, nicht lang … Aber darum geht’s nicht. Also fünfzehn Freunde. Einer stirbt. Einer zieht weg. Einen haste irgendwann mal beleidigt und dann will er nix mehr mit dir zu tun haben.«
Macht drei, denke ich und habe die Befürchtung, dass ich auch da wohl noch zu jedem einzelnen etwas hören werde.
Haller 14: Schwimmbad 1967 (2017)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-096-2
Kurzgeschichte: Mehr Jungfrau
LeseprobeMehr Jungfrau – Leseprobe
Nasskalte Riffel unter meinen Zehen. Die Luft riecht nach Wiese, Chlor und Pommes frites. Lachen und Kreischen von überall her. Alles bunt. Alles lebendig. Aber ich nicht wirklich Teil davon. Will gar nicht Teil sein. Ich hole tief Luft, stoße mich ab, tauche ab, tauche ein.
IF #5: Magazin für angewandte Fantastik (2017)
Whitetrain
ISBN: 978-1544909233
Kurzgeschichte: Leila
LeseprobeLeila – Leseprobe
Leila flog. Wind peitschte ihr ins Gesicht. Die Sonne brannte. Ein eigenartiges Gefühl, das mit der Sonne. Leila hatte den Eindruck, eigentlich müsse es regnen. So wie sie sich fühlte, müsste es eigentlich regnen.
Unter ihr wurde das zerstörte Kraftwerk langsam kleiner. Leila wusste, würde sie zurückschauen, würde sie noch immer die Flammen daraus hervorschlagen sehen. Kein Regen da, um sie zu löschen. Alles verbrannte. Alles wurde Staub. Leila sah nicht zurück. Trotzdem glaubte sie, noch immer die Hitze im Rücken zu spüren, noch immer die Schreie zu hören. Brit, Vic, Serj, Tom … so viele ihrer Freunde. Alle verbrannt, alle fort. Und was blieb, war nur das Brennen. Sonne, Kraftwerk, ihre Augen – alles brannte.
Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Wahrscheinlich würde sie es nie wieder können. Dafür hatten sich ihre Augen viel zu sehr verändert. Dafür hatte sie sich viel zu sehr verändert.
Deutlich sah Leila den Moment vor sich, in dem alles zusammengebrochen war. Nicht die Explosion, die nicht. Natürlich war sie furchtbar gewesen. Die Schreckensmomente zuvor, als sie den Fehler entdeckt hatten und dann der Knall, die Erschütterung, das plötzliche Licht … Es war, als wäre die Welt ein zu voll beladenes Regal gewesen und wäre dann plötzlich einfach zusammengestürzt. Es war furchtbar gewesen, unglaublich, unbeschreiblich, aber das war nicht der Moment, in dem wirklich alles zusammengebrochen war. Nein, das war der unmittelbar danach. Flammenknisternde Stille in den Trümmern einer wieder stillstehenden Welt. Verrenkte, verstümmelte Körper überall. Serj im Fenster, Brit unter dem Kontrollpult … Alles schwarz, alles tot, alles zertrümmert. Und Leila mitten dazwischen. Aufrecht und unversehrt.
Haller 12: Das Staunen der Welt. Visionen (2016)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-942533-65-2
Kurzgeschichte: Die blaue Pille wählen
LeseprobeDie blaue Pille wählen – Leseprobe
Unter dem Stapel unordentlich hingeworfener Papierhandtücher hätte Miri den Zipfel der transparenten Plastikfolie beinahe übersehen. Sie war müde und eigentlich hatte sie es eilig. In Gedanken war sie bereits wieder zurück bei ihren Büchern. Doch Neugierde hatte manchmal etwas eigenartig Selbstläuferisches, beinahe Mechanisches an sich. Ohne sich dessen voll bewusst zu sein, streckte Miri die Hand aus und schob die Papierhandtücher zur Seite.
Darunter kam ein bläuliches Päckchen zum Vorschein. Sie hob es auf und betrachtet es: Vier kleine blaue Pillen eingehüllt in Frischhaltefolie und so oft mit Klebeband umwickelt, dass man zweimal hinsehen musste, um die einzelnen Pillen zu erkennen.
Miri drehte das Päckchen nachdenklich zwischen den Fingern. Bei so einem Fund in der Unibibliothek musste man nicht lange raten, um darauf zu kommen, womit man es zu tun hatte. Schon gar nicht so kurz vor den Prüfungen. Die spannende Frage lautete nicht, was es war, sondern: Wie nun weiter?
Web-Veröffentlichungen
PAN-Kurzgeschichten-Adventskalender (2021)
Hrsg.: Zauberwelten-Online
& PAN Phantastik-Autoren-Netzwerk
Adventsgeschichte 12: Im Feenkreis
Zur Veröffentlichung geht es hier entlang.
HALTlose PROSA (2017)
Hrsg.: Gemeinde Ascheberg
& GWK-Gesellschaft für Westfälische Kulturarbeit
Kurzgeschichte: Schwindel
Zur Veröffentlichung geht es hier entlang.
Mehr zu meinen persönlichen Eindrücken von Wettbewerb und Workshop findet ihr hier.
»Nele Sickel überzeugte mit ihrem Text »Schwindel«, in dem sie sich mit bildhafter Sprache im Spannungsfeld zwischen Mut und Verzagtheit, Angst und Zuversicht bewegt.« (Nicole Klein-Weiland, Westfälische Nachrichten)