Zwielicht 20 (2024)
Hrsg.: Achim Hildebrand & Michael Schmidt
ISBN: 979-8883537768
Kurzgeschichte: Ein Mädchen in Gold mit Schuhen aus Glas
LeseprobeEin Mädchen in Gold mit Schuhen aus Glas – Leseprobe
Der Beat war perfekt. Vor allem laut. Die Gäste zahlreich, ausgelassen und durstig. Zane lehnte sich in den Polstern seiner schwebenden VIP-Plattform zurück und sah den Tänzern zu. Schwarzlicht ließ Zähne und Tattoos erstrahlen. Es fing sich im zarten Flügelschlag der Libellenmädchen auf ihren Podesten, blitzte auf den scharfen Krallen der Wild Girls.
Das Nox war der angesagteste Club der Stadt. Hier war es immer voll. Und seit Zane gestern den Jubiläumsball ausgerufen und die Preise aller Drinks um fünfzig Prozent reduziert hatte, konnte man selbst auf dem größten Floor kaum noch treten. Die Luft stand still vor Hitze. Sie knisterte vor Leidenschaft und Leichtsinn, war durchtränkt von Abgründen, Liebesschwüren und schlecht gehüteten Geheimnissen.
Normalerweise nutzte Zane Events wie dieses, um sich nach neuen Business-Gelegenheiten umzuhören. Mit kybernetisch verbesserten Ohren blendete er Bässe aus, lauschte brisanten Gesprächen. Er folgte den Bewegungen gut betuchter Kunden mit seinen aufgerüsteten Falkenaugen, plante, sammelte Informationen, knüpfte Kontakte.
Heute Nacht allerdings stand ihm der Sinn nach etwas anderem. Besser gesagt: nach jemand anderem. Das Mädchen in Gold hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, seit sie den Club gestern zum ersten Mal betreten hatte. Ihre selbstbewusste Unschuld, ihr offenes Lächeln, ihr kurzer gemeinsamer Tanz hatten ihn gepackt. Und als sie Schlag Mitternacht ohne jede Erklärung abgehauen war, hatte sie ihm endgültig den Kopf verdreht. Zane begegnete nicht oft Frauen, die es ihm schwer machten – dabei ging er so gern auf die Jagd.
Zwielicht 19 (2023)
Hrsg.: Achim Hildebrand & Michael Schmidt
ISBN: 979-8863264370
Kurzgeschichte: Geburtstag ohne Simon
LeseprobeGeburtstag ohne Simon – Leseprobe
Es ist einfach nicht das Gleiche ohne Simon.
Der Autoscooter quietscht quälend langsam vor sich hin, ohne einen Freund, den ich über die Bahn jagen kann. Zielschießen ist keine Herausforderung ohne Konkurrenz. Das Spiegellabyrinth schrecklich öde, nun, da es nur mein eigenes Gesicht zurückwirft. Selbst das gruseligste Skelett in der Geisterbahn verliert seinen Schrecken, wenn niemand da ist, der mit mir um die Wette schreit. Und ja, sogar die große Show im Zirkuszelt büßt ihren Reiz ein. Die Clowns sind nicht wirklich komisch, und kaum, dass ich nicht darüber diskutiere, welche Seiltänzerin nun hübscher ist – die zierliche mit den Sommersprossen oder die drahtige mit den Katzenaugen – kommen mir beide weniger verlockend vor. Kurzum: Der ganze blöde Jahrmarkt ödet mich an.
Dabei sollte alles so sein wie immer. Heute ist mein Geburtstag. Ich habe mein ganzes Taschengeld gespart und alle meine Lieblingsattraktionen besucht. Es hätte Spaß machen sollen. Mit Simon hätte es Spaß gemacht. Aber nein, seine bescheuerten Eltern mussten ja Jobs in Norwegen finden. Norwegen! Wer weiß, was sie da jetzt treiben. Vermutlich hüten sie Trolle. Und ich hänge allein auf dem dämlichen Jahrmarkt herum. Toller Geburtstag!
An der Losbude ziehe ich eine Niete. Natürlich.
Weltenportal Nr. 5 (2023)
Hrsg.: Christoph Grimm
Kurzgeschichte: Harmonien
LeseprobeHarmonien – Leseprobe
»Hier«, schepperte es aus dem Plastikkasten zwischen uns. Die computergenerierte Stimme überlagerte Baos Gurren. »Schau, Kristin!« Seine Knopfaugen leuchteten, als er die graue Hand nach der Pflanze ausstreckte.
Meine eigenen Hände juckten. Das kam von der Sonne. Vor unserer Ankunft auf Sirius IV hatte ich bloß die LED-Röhren der Arche gekannt. Die Sonne hatte es nur in Oma Jennys Erzählungen von der Erde gegeben. Und jetzt hier. Die ersten Tage hatte ich die Wärme ihrer blauen Strahlen geliebt. Doch sie hatte mir die Haut verbrannt.
Zwielicht 17 (2022)
Hrsg.: Achim Hildebrand & Michael Schmidt
ISBN: 979-8831476736
Kurzgeschichte: Alina
LeseprobeAlina – Leseprobe
Tage, die mit frühen Vorlesungen über angewandte Marktwirtschaft starten, werden eigentlich nie gut. Tage, an denen man beim Betreten des stickigen Audimax Alinas Blümchentasche allein und verloren in der dritten Reihe vorfindet, könnten da die prickelnde Ausnahme bilden.
Auch wenn ich für so etwas normalerweise kein Auge habe – ich bin ja nicht schwul oder so –, bin ich mir sicher, dass es Alinas Tasche ist. Es ist das gleiche klobige Ding, mit dem sie neulich auf der WG-Party der Mediziner mein Bier umgestoßen hat. Da kamen wir das erste Mal richtig ins Gespräch. Und es war echt nett. Verdammt nett sogar.
Heute will es nun also die Fügung, dass ich mich ganz zufällig neben sie setzen kann. Woher soll ich denn wissen, wessen Zeug da steht, richtig?
Ich nehme mein Telefon aus der Hosentasche und lasse mich auf den unbequemen Klappsitz direkt neben Alinas fallen. Die Scharniere quietschen, das Holz knarzt. Beides geht im Stimmengewirr meiner Kommilitonen nahezu unter.
Genau wie das Vibrieren des Telefons.
Meins ist das nicht.
Ich schaue mich um und mein Blick bleibt abermals an Alinas Blümchentasche hängen. Dort drinnen rattert und summt es. Gleich oben auf. Ein Handy im Blümchen-Case passend zur geblümten Tasche. Ich fasse es ja nicht! Ein bisschen geschmacklos ist das schon, aber falls Alinas feuerwehrrote Lippen nur halb so gut küssen wie sie über die neuste Folge des Bachelors ablästern können, ist mir das herzlich egal.
Ein flüchtiger Blick nach vorn: Noch kein Professor. Zur Seite: Noch keine Alina.
Ich greife nach ihrem Handy, gerade als das Vibrieren verstummt.
Ein verpasster Anruf von Jenny. Wer war noch gleich Jenny? Die Niedliche mit den Waschbäraugen oder die Alberne mit der Zahnlücke? Egal.
Vierstellige PIN. Vier Stellen …
Ich ziehe den Kalender meines eigenen Telefons zu Rate.
Weltenportal Nr. 2 (2021)
Hrsg.: Christoph Grimm
Kurzgeschichte: Ein bodenständiger Job
LeseprobeEin bodenständiger Job – Leseprobe
»Ausweichkurs!«, schrie Captain Smith über das Heulen der Sirenen hinweg und grub ihre Finger in die gepolsterten Armlehnen. »Bringen Sie uns in den verdammten Nebel!«
Die Raumschiffbrücke stank nach Qualm, die Lichter flackerten bedrohlich. Auf dem Hauptschirm wurden Sterne langsam aber sicher von einer grüngrauen Masse verschluckt.
»Wir sind jetzt im Nebel«, verkündete Commander Baker von der Steuerkonsole aus.
»Gut. Und unsere Verfolger?«
»Drehen ab! Wir sind allein.«
»Das wollte ich hören, Mr. Baker.« Smith schaute zur Taktik. »Alarm aus. Status des Schiffs, Lieutenant O‘Mara?«
Der Angesprochene betätigte einige Schaltflächen und ließ die Sirenen verstummen. »Schilde und Waffen ausgefallen. Hyperantrieb ausgefallen, Trägheitsdämpfer ausgefallen, interne Sensoren beschädigt.«
»Und die guten Nachrichten?«
»Strukturelle Integrität und Lebenserhaltung sind stabil, Captain. Noch.«
»Was soll das denn heißen?«
O’Mara straffte die Schultern. »Das soll heißen, dass der Nebel an sich dem Schiff nicht schadet. Allerdings gibt es hier drinnen mehrere unkartografierte Phasenverzerrungsfelder. Es ist völlig unklar, was passiert, wenn das Schiff in eins davon eintaucht. Im schlimmsten Fall könnte es uns zerreißen.«
»Keine angenehmen Aussichten … Baker, voller Stopp!«
»Davon rate ich ab, bis wir die Trägheitsdämpfer repariert haben, Captain.«
»Ach verdammt! O’Mara, sehen Sie eine Chance, uns heil durch diese Phasenverzerrungen durchzubringen?«
»Bin längst dran, Captain. Ich denke, wenn wir Energie aus den Sekundärsystemen umleiten, kann ich unsere Partikelwaffen so rekalibrieren, dass sie ein der Feldphase ent…«
Das Schiff vibrierte.
»Da haben wir direkt die Erste.«
»Baker, abdrehen!«
»Aye, Ca…« Der Pilot verstummte, als direkt neben seiner Konsole die Luft flimmerte.
Die Stelle glitzerte und trübte sich. Ein leises Rauschen. Und dann stand auf einmal ein Besucher mitten auf ihrer Brücke.
Weltenportal Nr. 1 (2021)
Hrsg.: Christoph Grimm
Kurzgeschichte: Geburt
LeseprobeGeburt – Leseprobe
»Uuund – das ist Nummer zwölf.« Captain Varsa lächelte zufrieden.
Von ihrem Platz am Rande der engen Raumschiffbrücke aus beobachtete Schiffsingenieurin Ca’sirr, wie die Kapitänin ihre feingliedrige Gestalt streckte und ein paar Schritte nach vorn machte. Kurz spiegelte sie das Lächeln ihrer Vorgesetzten, dann wanderte ihr Blick zurück zum Hauptschirm. Und zu dem metallenen Objekt, das dort inmitten eines dichten, orangebraunen Nebelfeldes abgebildet war.
»Meine Damen und Herren, wir haben es geschafft«, verkündete Varsa und verschränkte ihre dreifingrigen Hände ineinander. »Alle Gravitationsverstärker sind in Position. Operation Geburtshilfe steht kurz vor ihrem Abschluss.« Sie ließ ihre Worte eine Sekunde lang wirken, dann verteilte sie die Aufgaben. Von überall aus dem orangen Nebel der Schiffsatmosphäre erklangen Bestätigungen.
Zuletzt wandte Varsa sich an Ca’sirr. »Wie lange haben wir noch?«
Die Ingenieurin betrachtete ihr Kontrollpult und streckte einen ihrer langen, fast spinnenartigen Arme nach der Schaltfläche für die Zeitanzeige aus. Gleich darauf flackerte der Countdown auf und Ca’sirr las vor: »Vierunddreißig Minuten bis zum Autostart.«
Sie hob den Kopf. Captain Varsas Silhouette im Nebel gestikulierte knappe Zustimmung.
Vierunddreißig Minuten. In vierunddreißig Minuten würden die zwölf Gravitationsverstärker ihre Arbeit beginnen und dafür sorgen, dass sich Vren I – der Himmelskörper, in dessen Innerem sie sich gegenwärtig befanden – ungewöhnlich schnell zusammenziehen würde. Endlich. Der letzte Schritt eines lang geplanten Experiments. Schon seit Wochen waren Raumschiffe hier ein- und ausgeflogen. Deutlich größere Raumschiffe als das von Captain Varsa. Sie hatten komprimiertes Gas in den Himmelskörper geleitet und so seine Masse angereichert.
Zu Beginn war Vren I ein Brauner Zwerg gewesen – irgendetwas zwischen einem Planeten und einer Sonne. Eine riesige Gasansammlung, aber immer noch nicht riesig genug, als dass es für die Fusion aus Helium und Wasserstoff gereicht hätte, die einen Stern zu einem Stern machte. Mit den Gastransporten hatten sie das nun geändert. Der kritische Wert war überschritten und Vren I würde ein Stern werden.
Haller 16: Wahre Kunst (2019)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-155-6
Kurzgeschichte: Das Meisterwerk
LeseprobeDas Meisterwerk – Leseprobe
Sieben Uhr früh schellt die Glocke zum ersten Mal. Zum ersten Mal an diesem Morgen schwingt die Tür auf, sie lässt einen Schwall eisiger Luft und das erste Werk meiner Galerie ein, dieser Galerie, zu der mich Monika Creuzberg inspiriert hat, aber dazu später mehr. Kaum schweigt die Glocke, spricht Angelina. Ich kenne ihren Nachnamen nicht. Wenn sie hier telefoniert – was sie selten tut, sie ist höflich – dann meldet sie sich nur mit dem Vornamen. Ihre weiche Stimme flattert beim Hallo am Telefon immer etwas höher als sonst. Ich mag diese Stimme, egal in welcher Tonlage. So klingen all die liebenswerten Nebenrollen in Hollywoodstreifen. Die besten Freundinnen, die chaotischen Kolleginnen und die hilfsbereiten Nachbarinnen.
»Guten Morgen«, sagt Angelina mit ihrer Nachbarinnenstimme. »Zwei Körner- und ein Zwiebelbrötchen bitte.« Ich nicke, lächle ihr zu und betrachte sie einen Moment, während ich blind die richtigen Brötchen aus der Auslage ziehe.
Das kurze blonde Haar steht ihr ausgezeichnet, ich hab’s gewusst! Es betont die Wangenknochen und den langen Hals, es kitzelt das Blau aus ihren wassergrauen Augen hervor. Es war ein hartes Stück Arbeit, sie zu dieser Veränderung zu bewegen, doch das hat sich gelohnt, keine Frage.
Eigentlich mag Angelina keine Veränderungen. Seit drei Jahren kommt sie alle paar Tage in meinen Laden und bis heute hat sie ihr Haar immer auf dieselbe Weise getragen: lang, dunkelbraun und öde. Ich musste Monate darin investieren, ihr unauffällige Hinweise zu geben, nette Komplimente, wie sie eben gerade so zwischen Tür und Angel passen. Sie strahlen heute so, wann immer sie hell gekleidet war. Wie gut Sie heute aussehen!, wann immer sie ihr Haar hochgesteckt hatte. Sie hat jedes Mal gelächelt und nun endlich hat sie auch verstanden und gehandelt.
»Neue Frisur«, bemerke ich beiläufig, während ich ihre Brötchen in die Papiertüte fallen lasse und sie ihr über die Theke reiche. »Steht Ihnen!«
Haller 15: Alte Freunde (2017)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-111-2
Kurzgeschichte: Fünfzehn Freunde
LeseprobeFünfzehn Freunde – Leseprobe
»Fünfzehn Freunde«, wiederholt er. »Sollteste haben, dann haste alles richtig gemacht.«
»Aha«, sage ich und denke: Mist, jetzt kann ich nicht mehr einfach so abhauen.
»Glaub mir, es stimmt«, sagt der Mann.
»Fünfzehn Freunde?« Ich schaue auf meine Hände.
»Genau. Vertrau nem alten Mann. Hinterher ist man ja immer schlauer. Rückblickend und so. Dann hätte man’s vorher gewusst.«
»Ah … Wieso fünfzehn?«
Der Mann rückt näher. »Wenn du erst so alt bist wie ich«, sagt er, »wird einer deiner Freunde tot sein.«
»Das tut mir leid.« Ich schaue ihn immer noch nicht an. Stattdessen kram ich mein Brötchen aus der Bäckertüte und beginne, zu essen.
»Muss es nicht«, sagt der Alte. »Denn das heißt immerhin, dass vierzehn deiner Freunde noch leben.«
»Das Glas ist halb voll, hm?«
»Wenn Bier drin ist, nicht lang … Aber darum geht’s nicht. Also fünfzehn Freunde. Einer stirbt. Einer zieht weg. Einen haste irgendwann mal beleidigt und dann will er nix mehr mit dir zu tun haben.«
Macht drei, denke ich und habe die Befürchtung, dass ich auch da wohl noch zu jedem einzelnen etwas hören werde.
Haller 14: Schwimmbad 1967 (2017)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-096-2
Kurzgeschichte: Mehr Jungfrau
LeseprobeMehr Jungfrau – Leseprobe
Nasskalte Riffel unter meinen Zehen. Die Luft riecht nach Wiese, Chlor und Pommes frites. Lachen und Kreischen von überall her. Alles bunt. Alles lebendig. Aber ich nicht wirklich Teil davon. Will gar nicht Teil sein. Ich hole tief Luft, stoße mich ab, tauche ab, tauche ein.
IF #5: Magazin für angewandte Fantastik (2017)
Whitetrain
ISBN: 978-1544909233
Kurzgeschichte: Leila
LeseprobeLeila – Leseprobe
Leila flog. Wind peitschte ihr ins Gesicht. Die Sonne brannte. Ein eigenartiges Gefühl, das mit der Sonne. Leila hatte den Eindruck, eigentlich müsse es regnen. So wie sie sich fühlte, müsste es eigentlich regnen.
Unter ihr wurde das zerstörte Kraftwerk langsam kleiner. Leila wusste, würde sie zurückschauen, würde sie noch immer die Flammen daraus hervorschlagen sehen. Kein Regen da, um sie zu löschen. Alles verbrannte. Alles wurde Staub. Leila sah nicht zurück. Trotzdem glaubte sie, noch immer die Hitze im Rücken zu spüren, noch immer die Schreie zu hören. Brit, Vic, Serj, Tom … so viele ihrer Freunde. Alle verbrannt, alle fort. Und was blieb, war nur das Brennen. Sonne, Kraftwerk, ihre Augen – alles brannte.
Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Wahrscheinlich würde sie es nie wieder können. Dafür hatten sich ihre Augen viel zu sehr verändert. Dafür hatte sie sich viel zu sehr verändert.
Deutlich sah Leila den Moment vor sich, in dem alles zusammengebrochen war. Nicht die Explosion, die nicht. Natürlich war sie furchtbar gewesen. Die Schreckensmomente zuvor, als sie den Fehler entdeckt hatten und dann der Knall, die Erschütterung, das plötzliche Licht … Es war, als wäre die Welt ein zu voll beladenes Regal gewesen und wäre dann plötzlich einfach zusammengestürzt. Es war furchtbar gewesen, unglaublich, unbeschreiblich, aber das war nicht der Moment, in dem wirklich alles zusammengebrochen war. Nein, das war der unmittelbar danach. Flammenknisternde Stille in den Trümmern einer wieder stillstehenden Welt. Verrenkte, verstümmelte Körper überall. Serj im Fenster, Brit unter dem Kontrollpult … Alles schwarz, alles tot, alles zertrümmert. Und Leila mitten dazwischen. Aufrecht und unversehrt.
Haller 12: Das Staunen der Welt. Visionen (2016)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-942533-65-2
Kurzgeschichte: Die blaue Pille wählen
LeseprobeDie blaue Pille wählen – Leseprobe
Unter dem Stapel unordentlich hingeworfener Papierhandtücher hätte Miri den Zipfel der transparenten Plastikfolie beinahe übersehen. Sie war müde und eigentlich hatte sie es eilig. In Gedanken war sie bereits wieder zurück bei ihren Büchern. Doch Neugierde hatte manchmal etwas eigenartig Selbstläuferisches, beinahe Mechanisches an sich. Ohne sich dessen voll bewusst zu sein, streckte Miri die Hand aus und schob die Papierhandtücher zur Seite.
Darunter kam ein bläuliches Päckchen zum Vorschein. Sie hob es auf und betrachtet es: Vier kleine blaue Pillen eingehüllt in Frischhaltefolie und so oft mit Klebeband umwickelt, dass man zweimal hinsehen musste, um die einzelnen Pillen zu erkennen.
Miri drehte das Päckchen nachdenklich zwischen den Fingern. Bei so einem Fund in der Unibibliothek musste man nicht lange raten, um darauf zu kommen, womit man es zu tun hatte. Schon gar nicht so kurz vor den Prüfungen. Die spannende Frage lautete nicht, was es war, sondern: Wie nun weiter?