10 Jahre Leseratten Verlag (2024)
Hrsg: Marc Hamacher
Leseratten Verlag
Kurzgeschichte: Hexenküche
Hexenküche – Leseprobe
»Dreimal links herum rühren.« Im Schummerlicht der schwülen Höhle, bloß erhellt vom Feuer unter dem Hexenkessel, kniff Bettina die Augen zusammen. Es würde helfen, wäre die Schrift in diesen verstaubten Zauberschinken nicht ganz so antiquiert – oder zumindest einen Tucken größer. »Ja, links herum. Ziemlich sicher.«
»Schon geschehen.« Belinda nahm eine Hand vom hölzernen Kochlöffel und wischte sich den Schweiß von der runzligen Stirn. »Wie weiter?«
»Eine Prise Pulver vom Huf eines Einhorns.«
»Kommt sofort.«
»Hier steht, es funktioniert am besten, wenn das Einhorn vereitert – nein, verheiratet – war.«
»Woher soll ich das denn wissen?« Belinda hatte die Finger im aschgrauen Pulver vergraben. Nun zögerte sie.
»Wir werden das Einhorn nicht mehr fragen können. Gib es einfach hinein und hoffen wir das Beste!«
»Hm.« Mit spitzen Fingern ließ Belinda den Einhornhuf in den Kessel rieseln.
Der Trank brodelte auf. Es machte puff. Eine giftgrüne Wolke stieg auf, verbreitete Schwefelgeruch und sammelte sich in dicken Schwaden unter der niedrigen Decke.
»Soll das so?«, fragte Belinda und zog den Kopf tiefer zwischen die buckligen Schultern.
»Ja«, log Bettina, damit ihre Schwester sich nicht aufregte. Es half absolut niemandem, wenn Belinda sich aufregte.
Ferne Horizonte – Entfernte Verwandte: Die Welt in Jahrmillionen (2023)
Hrsg.: Hans Jürgen Kugler & René Moreau
Hirnkost Verlag
ISBN: 978-3-98857-012-3
Kurzgeschichte: Gedankenlos
Gedankenlos – Leseprobe
Der Himmel ist von jenem melancholischen Rotgold, irgendwo zwischen Feuerglut und der satten Frische reifer Äpfel. Die schwüle Luft am Fluss kühlt rasch aus, aber die Steine, auf denen ich liege, sämtliche Glieder ausgestreckt, summen noch von der Hitze des Tages. Ich trinke letzte süße Wärme, koste sie aus, ehe ich mich für die Nacht in mein Nest zurückziehe. Es sind die friedlichsten Momente, jene hier allein am Fluss. Keine Beute, keine Konkurrenten, nur das Plätschern der Stromschnellen und das Rauschen meiner eigenen Gedanken.
Eine Fontaine, scheinbar aus dem Nichts.
Ich schwirre auf, will auf Abstand gehen, doch drei meiner Glieder bleiben auf dem Stein zurück, ihre Flügel schwer und verklebt.
Etwas schiebt sich behäbig aus dem Wasser: Nackte Säugerhaut, weich und schmierig, durchbrochen von grellrot aufgeschwemmten Wundwulsten. Vier lange Ausläufer mit gelenkigen Klauen. Der gesamte Körper in Fetzen und Metallfragmente gewickelt.
Raubaffe!
Japanische Märchen Update 1.1: Die Kitsune-Geisha (2023)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-3-95959-365-6
Kurzgeschichte: Fuyoko und das Biest
LeseprobeFuyoko und das Biest – Leseprobe
Hätte man Fuyuko gefragt, wann es angefangen hatte, sie hätte gesagt, schon bei der Hochzeit. Das Biest, das ihr einfältiger Sohn sich zur Frau auserkoren hatte, war nie besonders gut oder freundlich gewesen.
Aber eskaliert? Das war es erst, als das Wetter so tief in Fuyukos Knochen gekrochen kam, dass sie keinen Schritt mehr vor die Tür schaffte, ohne vor Schmerzen zu stöhnen. Das Biest hatte Mitleid geheuchelt, immer wieder davon angefangen, wie viel Ruhe ihre ach so kranke Schwiegermutter doch jetzt bräuchte, und sie schließlich unter dem Deckmantel der Sorge in die zugige alte Gartenhütte verbannt.
Dort brachte Fuyuko nun ihre trostlosen Stunden zu, zusammengekrümmt auf einer durchgelegenen Matratze mit nichts als einer muffigen Wolldecke zum Schutz gegen die eisige Herbstluft, die durch die offenen Fensterstreben fegte. Es war zum Heulen. Nur lag Fuyuko das Heulen gar nicht. Sie war schließlich nicht so alt geworden, ohne ein gehöriges Maß an Weisheit zu sammeln. Bettlägerig oder nicht: Mit ihrem Biest von einer Schwiegertochter würde sie fertig werden.
Unholy Night: Die Fahrt ins Ungewisse (2022)
Hrsg.: Jessie Weber & Kathrin Furhmann
ISBN: 978-3-947550-852
Kurzgeschichte: Schweinsgalopp im Schneegestöber
Schweinsgalopp im Schneegestöber – Leseprobe
Quietschend und schnaufend kam der Stahlkoloss zum Stehen. Mir waren solche Dinger ja von jeher suspekt. Zu groß , zu laut, zu schnell, zu … Na ja. Ich bin wohl eher der altmodische Typ. Menschen sind da anders. Kurzlebig, flatterhaft, immer auf der Suche nach etwas Neuem. Das macht sie zu anstrengenden Gesprächspartnern. Allerdings verleiht es ihnen auch Erfindungsreichtum. Und genau den brauchte ich in diesem Moment.
Dichter Schnee umwehte den Zug, glänzte golden im Lampenlicht, das aus dem Inneren drang. In meinem Versteck zwischen zwei Ligustersträuchern lauschte ich angestrengt auf jedes Geräusch.
Kein Hufgetrappel. Keine Glockenklänge. Keine knallende Rute. – Gut.
Keine Schritte. – Weniger gut.
Da endlich knackte und rappelte es. Quälend langsam öffnete sich eine Zugtür, gab den Blick auf einen einzelnen Menschen frei. Die Lampen erleuchteten die Gestalt von hinten. So konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen. Ich sah dunkle Haare auf einer bauschigen Jacke ruhen. Darunter ein kurzer Rock und dann – ich blinzelte – glitzernde Strümpfe. Na, das war doch immerhin angemessen festlich.
Unschlüssig wandte die Gestalt den Kopf von einer Seite zur anderen. Ich wartete, dass sie herauskommen würde, doch sie schaute und schaute nur. Auch ich blickte nach links und rechts. Noch schien sich im Schnee nichts zu bewegen und ich hörte immer noch keine Hufe, keine Glocken. Also riskierte ich es. Ich trat Tyge in die Seiten und trabte mit ihm aus dem Schutz der Sträucher hinaus in den goldenen Lichtschein.
»Hierher.« Aufgeregt winkte ich mit beiden Armen. »Hierher!«
Die Gestalt in den Glitzerstrümpfen brauchte trotzdem noch einen langen Moment, ehe sie mich entdeckte. Und einen noch längeren, bis sie endlich aufhörte zu glotzen und sich in Bewegung setzte.
»Komm schnell«, bat ich, während sie die vom Schnee schlüpfrigen Metallstufen herabkletterte. »Ehe er uns eingeholt hat.«
»Wer?«, fragte die Gestalt.
Nun, da sie näher an mich herangetreten war, erkannte ich sie als Frau im mittleren Alter. Irgendwo zwischen zwanzig und sechzig. Menschen verändern sich so schnell und so unterschiedlich, da ist das schwer zu schätzen.
»Na, wer schon? Der Krampus. Hast du ihn nicht um den Zug schleichen sehen?«
»Der was?« Frau Glitzerstrumpf starrte verständnislos zu mir herunter.
»Der Krampus«, wiederholte ich langsam und deutlich. »Er hält mich für ein ungezogenes Kind. Er will mich in die Butte, den Korb auf seinem Rücken, stecken und bestrafen.«
»Aber … du bist kein Kind?«
»Natürlich nicht. Oder kennst du viele Kinder mit grauem Rauschebart?«
Sie schüttelte träge den Kopf, starrte immer noch.
»Ich bin der Julenisse. Und wenn der Krampus mich in die Butte steckt, dann kann ich keine Geschenke verteilen.« Mit einer Kopfdrehung deutete ich auf den prall gefüllten Sack hinter meinem Sattel.
»Der … Julenisse …«
»Ja doch!«
»Auf einem Schwein.«
Ich tätschelte Tyge den Nacken. »Irgendwie muss man ja vorankommen.«
Sie starrte.
»Bitte reiß dich zusammen. Wir haben nicht viel Zeit und ich brauche deine Hilfe.«
Mysterien der See: Düstere Geschichten (2022)
Hrsg.: Vanessa Kaiser & Thomas Karg
Verlag Torsten Low
ISBN: 978-3-96629-026-5
Kurzgeschichte: Meerschaumaugen
Meerschaumaugen – Leseprobe
Amir litt nicht an Klaustrophobie. Wirklich nicht. Er hatte in den letzten zwei Jahren etliche Stunden in allerlei Untersuchungsröhren verbracht, in engen Wassertanks und noch engeren Überdruckkammern. Er hatte ruhiges Blut, einen wachen Verstand und stählerne Nerven. Deswegen war er hier. Deswegen hatten sie ihn ausgewählt.
Und deswegen versetzte ihm der Anblick der allumfassenden Schwärze nur ein leichtes Kribbeln im Nacken. Nur ein kalter Hauch unter dem Neopren, ein sanftes Stechen am Haaransatz, mehr war es nicht.
Er ballte die linke Hand zur Faust und sofort flammten orangerote Ziffern vor seinen Augen auf. Die Innenseite seines Visiers wurde zum Display: Zeit: 17:24 Uhr, Sauerstoffreserven: 99,8 Prozent, Antrieb: online, Reisegeschwindigkeit: 10 km/h, Außentemperatur: 2 Grad Celsius, Druck: 426 bar, Tiefe: 4342 Meter und fallend.
Amir lockerte die Faust und die Ziffern verschwanden. Er kreuzte Zeige- und Mittelfinger und die Frontscheinwerfer seines Helms strahlten in geraden Trichtern durch die Schwärze.
Ihr Licht blieb ungebrochen. So weit unten in der Tiefsee gab es nichts mehr, keine Fischschwärme, keine Quallen, nicht einmal Luftblasen, die die vier Kilometer zur Oberfläche hinaufgetrieben wären. Alles, was hier unten noch lebte, versteckte sich und lauerte auf Beute.
Amir löste die Finger voneinander und die Scheinwerferstrahlen erloschen. Die Anzugkontrollen arbeiteten fehlerfrei, sie reagierten in Sekundenbruchteilen und völlig lautlos. Der Prototyp hielt in jeder Hinsicht, was er versprach. Dank ihm war Amir der erste Mensch, der ohne den Schutz eines U-Bootes in diesen entlegenen Winkel des Meeres hinabdrang. Und er war völlig allein.
Es kribbelte in seinem Nacken.
Einsamkeit, dachte Amir. Es war schon erstaunlich, wie sehr sie in ihrer Symptomatik dem Gefühl glich, aus einer dicht gedrängten Menschenmenge heraus beobachtet zu werden. So als wäre da jemand. Ganz nah.
Natürlich gab Amir, der Mann des ruhigen Blutes, nichts auf solche Gefühle. Doch er war hier heruntergekommen, um sich umzusehen, da konnte er genauso gut eine Kurve schwimmen, nicht wahr? Er wollte einmal sehen, was die Manövrierdüsen des Anzugs taugten.
Also vollführte er eine Kreisbewegung mit der linken Hand. Fast zeitgleich drehte der Anzug um, zeigte ihm die andere Seite der Schwärze.
Und Augen. Weißblaue Augen, so hell und trüb wie die Schaumkronen der Wellen weit, weit über ihm. Menschliche Augen. Kaum eine Armeslänge entfernt.
Sommernachtsmythen (2022)
Hrsg.: Maria Linwood & Hanne Benden
ISBN: 978-3-756229765
Kurzgeschichte: Von einer weisen Frau
Von einer weisen Frau – Leseprobe
Ich besaß einmal einen bronzenen Becher. Zu Beginn des Frühjahrs räucherte ich darin Salbei und Beifuß am offenen Fenster. Nur ganz kurz drehte ich mich zum Herd. Als ich wieder aufsah, war mein Becher verschwunden. An seiner Stelle blitzten mir bernsteinfarbene Augen aus der Dämmerung entgegen. Nur einen Atemzug lang, dann waren auch sie fort.
Eigentlich brauchte ich keinen bronzenen Becher. Ich lebte allein in meiner kleinen Waldhütte, hatte wenig und benötigte noch weniger. Die Leute aus dem nahen Dorf mieden mich – auf eine ehrfürchtige Art. Sie nannten mich ihre weise Frau, auch wenn es ihnen schwer von den Lippen ging. Ihr seht, ich bin gerade alt genug, um als Frau durchzugehen. Von Weisheit aber erwarten die Menschen Krähenfüße und Lachfalten, gebeugte Schultern und ergrautes Haar. Meine Großmutter war früher ihre weise Frau gewesen. Seit sie nicht mehr ist, bin ich der Ersatz, der erst noch richtig in die Rolle hineinwachsen muss.
Meine Großmutter ist auch der Grund, weshalb mir der bronzene Becher seit jenem Frühlingsabend nicht aus dem Kopf ging. Er hatte ihr gehört, so wie vorher ihrer Mutter und davor deren Mutter … Ihr begreift schon. Es war mein Becher. Ein letztes Andenken an die verlorene Familie, an den einzigen Menschen, der mir je nahe war. Egal, wie gefährlich es werden mochte: Natürlich würde ich ihn zurückholen. Und ich hatte zum Glück eine sehr genaue Vorstellung davon, wer ihn gestohlen hatte.
Gothic Steam: Eine Dreadpunk-Anthologie (2022)
Hrsg.: Detlef Klewer
Hammer Boox
Kurzgeschichte: Sturm über Goslar
Sturm über Goslar – Leseprobe
Der Himmel war schon bedrohlich grau, als ich abhob. Dunkle Turmwolken bäumten sich auf. Der Wind pfiff und am Horizont in Richtung Seesen flimmerte es in unregelmäßigen Abständen. Blitze.
Es wäre vernünftig gewesen am Boden zu bleiben, doch der Nachmittag schritt unaufhaltsam voran und mir fehlte das Kleingeld für eine Übernachtung in Goslar, dieser Spielzeugstandt, in der es nichts gab außer himmelhohen Schloten und überteuerten Pensionen in niedlichen Fachwerkhäuschen. Das Eisenerz, für das ich gekommen war, lagerte fest verzurrt im Frachtraum und überhaupt war es nur eine Dreiviertelstunde bis nach Halberstadt. Wenn ich mich nur beeilte, würde ich dem Unwetter davonfahren.
Verglichen mit den bequemen Turmplattformen, an die ich aus Halberstadt gewöhnt war, gestaltete sich der Aufstieg vom engen goslarer Landefeld umständlich. Sei es drum: Wurde es knifflig, dann war ich gerade die richtige Frau für den Job. Kleine Herausforderungen wie diese betrachtete ich als Fingerübung.
Ich ließ den Dampfkessel auf wenig Druck laufen, gerade genug, um mal einen Rotor hier, mal einen dort anzusteuern. Den Großteil der Arbeit überließ ich dem Gastank. Nicht lang und ich schwebte sichere zwanzig Meter über Pflasterstraßen, Kutschen und den ach so niedlichen Ziegeldächern.
Zufrieden atmete ich durch und hätte mich gern zurückgelehnt, hätte es in der engen Steuerkapsel der Lenore etwas zum Anlehnen gegeben. Doch zwischen Dampfmaschine, Rohren, Rudern, Periskop, Steuerrad und Frachtkammer, fand sich kaum Platz für mich, geschweige denn für einen Stuhl. Nun gut, Zeit für Bequemlichkeit würde sein, sobald ich sicher gelandet war.
Das Grau des Himmels gewann an Selbstbewusstsein, verdunkelte sich zusehends. Seine diesigen Schleier verschluckten die Harzberge rechts von mir, verwandelten sie in bedrohlich finstere Schemen. Ein Blick durch das Periskop, das unten an der Aussichtsplattform vorbei aus dem Schiffsrumpf herausragte, verriet mir, dass die Blitze näher gekommen waren. Mehr als ein Flimmern zuckten sie jetzt in dürren Strahlen über den Horizont. Doch ich bewegte mich von ihnen fort. Alles unter Kontrolle.
Schon näherte ich mich den Randgebieten der Stadt. Keine niedlichen Fachwerkhäuschen hier, dafür Fabriken mit hohen Schornsteinen. Ich drehte das Periskop nach vorn, um meinen Auftrieb zu kontrollieren. Da waren noch einige Schlote im Sichtfeld. Vielleicht musste ich etwas Ballast abwerfen, um schnell genug aufzusteigen. Oder ich würde … Moment mal. Winkte da jemand?
Chinesische Märchen Update 1.1: Auch Jadedrachen können beißen (2022)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-3-95959-336-6
Kurzgeschichte: Der Kreis schließt sich
Der Kreis schließt sich – Leseprobe
Es ist heiß an diesem Wintermorgen. Du dachtest eigentlich, du hättest dich an die Winterhitze gewöhnt, doch jetzt schwitzt du unter deiner Regenjacke. Die gefürchteten Frühlingsstürme lassen auf sich warten. Es ist entsetzlich trocken und der Staub kratzt dir im Hals, als du den Abhang hinunter stolperst. Du hustest. Die Aluminiumflasche an deinem Gürtel schlägt dir bei jedem Schritt leer und nutzlos gegen das Bein.
Reisen. Die Welt sehen. Du hattest schon bessere Ideen.
Vor dir taucht eine Struktur auf. Verschwommen erst, doch als du weiter hinabsteigst und dir den Staub aus den Augen reibst, erkennst du Häuser, behängt mit roten Laternen und umsäumt von blühenden Kirschbäumen.
Du reibst dir die Augen noch einmal. Ist es schon warm genug für eine Fata Morgana?
Das Bild bleibt unverändert. Bäume. Blühende Bäume und Häuser, die Schatten bieten. Vielleicht sogar Wasser oder etwas zu essen. Du stolperst weiter, schneller jetzt, mobilisierst deine letzte Kraft.
Dein Blick ist so fest auf die rosa Blüten gerichtet, du hättest die Gestalt in den Staubwolken beinahe übersehen. Dabei ist sie riesig. Ein Mann mit grauem Bart und einer antik anmutenden roten Jacke. Er kniet, hält den Kopf gesenkt, und dennoch überragt er dich um einen knappen Meter. Diesmal bist du dir sicher, dass du es mit einer Sinnestäuschung zu tun haben musst. Kein Mensch ist so gigantisch. Trotzdem trittst du näher
Die Konturen der Gestalt werden kantiger, je genauer du sie erkennen kannst. Und da liegt etwas Schwarzes auf den Schultern des Riesen. Sind das … Kann das sein? Solarkollektoren? Du hast seit Ewigkeiten keine mehr gesehen. Zumindest keine, die noch intakt waren.
Wenn du die in die Finger bekommen könntest. Nur einen einzigen …
»Vorsichtig«, sagt eine tiefe Stimme.
Du fährst herum, suchst nach dem Sprecher. Der Riese kann es nicht sein, er hat sich keinen Millimeter gerührt, seitdem du ihn entdeckt hast.
»Shixin tötet jeden, der ihn in seinem Schlaf stört.«
Die Kaffeefee (2022)
Hrsg.: Diana Menschig & Grit Richter
Art Skript Phantastik Verlag
ISBN: 978-3-945045-18-3
Kurzgeschichte: Aminata wartet
LeseprobeAminata wartet – Leseprobe
Guten Abend, tretet näher, setzt euch zu mir! Jetzt schaut nicht so. Ihr wolltet doch eine Geschichte hören, oder nicht? Wer die Kaffeefee ist, wollt ihr wissen. Das erfahrt ihr nur von mir, also kommt, und setzt euch schon!
Ach was, ihr zögert wegen meines Aussehens? Hände und Füße ohne einen Körper dazwischen findet ihr gruselig? Da kann ich euch beruhigen. Ich bin ein Mann. Vollständig mit Kopf und Brust, Beinen und allem, was ihr euch sonst noch von einem Mann wünschen könnt. Und gutaussehend bin ich. Ihr macht euch keine Vorstellung. Gestählt von der Arbeit, geküsst von der Sonne, weich gestreichelt vom Frühlingswind. Ich bin nur eben – Hände und Füße ausgenommen – unsichtbar. Also werdet ihr mir, was mein strahlend schönes Äußeres angeht, einfach vertrauen müssen.
Kommt! Setzt euch! Alle da? Dann willkommen! Ich bin Demba, und das hier ist meine Geschichte.
Na ja, eigentlich stimmt das nicht so ganz. Man sollte eine gute Erzählung immer mit der Wahrheit beginnen, ist es nicht so? Na gut, von vorn also: Ich bin Demba, und das hier ist die Geschichte von meiner Freundin Aminata, der Yumboe.
Jetzt schaut nicht so allwissend! Es gibt keinen Grund, mir etwas vorzumachen. Ich weiß genau, dass die meisten von euch noch nie von einer Yumboe gehört haben. Ihr kennt so wenig von der Welt. Aber schnell mit euren Smartphones seid ihr, das muss man euch lassen. Die Hälfte von euch hat Yumboe schon gesucht, ist es nicht so?
Lasst mich raten, was da steht: Feengeister aus dem Senegal, klein, mit perlweißer Haut und Silberhaar. Binden sich an menschliche Familien und heulen, wenn da ein Angehöriger stirbt. Nicht bösartig, aber spitzbübisch. Klauen Getreide und lassen sich bei ihren großen Festen auf den stillen Hügeln von unsichtbaren Dienern umsorgen, von denen man nur Hände und Füße sehen kann.
Liege ich richtig?
Ha! Wusste ich es doch. Alles Halbwissen. Wir wollen bei der Wahrheit bleiben, also legt die Telefone weg, und hört gut zu!
Alien Contagium: Erstkontakt-Geschichten (2022)
– Bronzener Stephan 2022: Beste Anthologie (Dritter Platz) –
Hrsg.: Christoph Grimm
ISBN: 978-3-946348-33-7
Kurzgeschichte: Werdendes Leben
LeseprobeWerdendes Leben – Leseprobe
Ein schrilles Pfeifen färbte die Kontrollkonsole orange und das blinkende Warnlämpchen plärrte so laut, dass Rae zusammenzuckte. Nein, andersherum! So oder so fand Rae sich verschreckt vor ihren Schaltelementen wieder. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und musste erst einen tiefen Atemzug nehmen, ehe es ihr gelang, die Dinge in die ihnen vorbestimmte Ordnung zu bringen.
Kollisionsalarm. Das war es, was die Sirene ihr entgegenschrie. Und die Lampe zeigte ungewöhnlich starken Treibstoffverlust in der linken Steuergondel an. Man musste nicht Holmes heißen, um zu schlussfolgern, dass die Kollision mit dem, was auch immer es war, einen Treibstofftank leck geschlagen hatte.
»Verfluchte Scheiße«, murmelte Rae und setzte alles daran, die Panik niederzukämpfen. Ihre Hände flogen über die Treibstoffkontrollen. »Ich musste ja auch auf deinen Discount-Preis reinfallen, du dämlicher Schrotthaufen! Von wegen neuwertiger Kollisionsschild …«
Die Kontrollen halfen nicht weiter. Rae fand keine Einstellung, mit der sich das Leck hätte schließen lassen und ehe sie Zeit hatte, einen Ausflug auf die Schiffshülle auch nur in Erwägung zu ziehen, war der Tank bereits leer. Sie konnte nicht mehr tun als fluchend auf den Ersatztank umzustellen und zu berechnen, wie weit das Schiff damit kommen würde. Die Antwort war simpel: Nicht weit genug.
Während sie ihre Optionen durchging, bewegte sich etwas am Rande ihres Blickfeldes. Rae fuhr herum. Das Cockpit war leer. Kein Mensch außer ihr an Bord. Bewegungen konnten nur bedeuten, dass das Schiff nun auch noch in seinem Inneren auseinander fiel.
Macht und Wort: Die Macht der Sprache – Sprache der Macht (2021)
Hrsg.: Hans Jürgen Kugler & René Moreau
Hirnkost Verlag
ISBN: 978-3949452192
Kurzgeschichte: Justiti.b21
Justiti.b21 – Leseprobe
06.09.2049, 12:30:01 Uhr.
Aufnahmeeinheit Justiti.b 21
Neues Datenpaket.
Datei 1. Bundeszentralregisterauszug. Drei Einträge.
Hausfriedensbruch in Kiel. 24.01.2045. 20 Tagessätze à 10 Euro, ermittelt durch Justiti.a 13.
Körperverletzung in Hamburg. 17.01.2047. 120 Tagessätze à 10 Euro, ermittelt durch Justiti.a 27.
Wohnungseinbruchsdiebstahl in Bonn. 04.03.2048. 1 Jahr 2 Monate Freiheitsstrafe, ermittelt durch Justiti.a 03. Strafe ausgesetzt zur Bewährung. Voraussichtliches Bewährungsende 15.04.2051.
Auf dem Display drehte sich ein Sanduhr-Icon in widerlicher Gleichmäßigkeit. Pascal-Maxim wusste, dass er zu warten hatte, bis das Bild durch ein Mikrofonsymbol ersetzt wurde. Erst dann durfte er reden, erst dann würde das Gerät ihm zuhören. So waren die Regeln. Unmittelbar danach würde auf dem Display der gefürchtete Schuldspruch erscheinen.
Das war schon alles, der ganze spektakuläre RichterBot. Ein grauer Kasten, ein Display, darauf eine Sanduhr. Unfassbar, dass von diesem Ding seine komplette Zukunft abhängen sollte.
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Open the bottle: Die Flasche der Pandora (2021)
Hrsg.: Kathrin Fuhrmann & Jessie Weber
ISBN: 978-3-00-070056-9
Kurzgeschichte: Holla und der Heidelbär
LeseprobeHolla und der Heidelbär – Leseprobe
Als sich der Ausgang mit einem vollmundigen Ploppen auftat, zögerte Holla keine Sekunde. Sie streckte die Finger aus, krallte sich ans Glas, zwängte sich hinaus.
Plopp.
Da stand sie mit den bloßen Füßen auf einem weichen Teppich. Im Feuerschein schaute sie an sich herab, strich den grünen Rock glatt, sein fester Stoff gewebt aus langen Blättern, verziert mit dunkelroten Beeren und Büscheln kleiner weißer Blüten. War das so richtig? Ja, sie glaubte schon. So sah sie aus, wenn sie nicht bloß floss und schwappte. Nur der fransige Riss im Rock, die blutige Schramme an ihrer Wade – die hätten nicht sein sollen.
Holla blickte zurück. Ihr gläsernes Gefängnis wirkte trügerisch harmlos, wie es da lag und leise gurgelnd schäumte. Wie viel Zeit hatte sie darin verbracht? Waren es Wochen oder Monate gewesen, in denen es keine andere Ablenkung gegeben hatte, als dem Limetterling Blubberblasen gegen die zarten Flügel zu pusten oder dem Pfirsittich das Gefieder zu zerzausen? Hatte es überhaupt eine Zeit davor gegeben?
Das geheime Sanatorium: Phantastische Geschichten (2021)
– nominiert für den Vincent-Preis 2020/2021 –
Hrsg.: Nadine Muriel & Rainer Wüst
Lindwurm Verlag
ISBN: 978-3-948695-32-3
Kurzgeschichte: Ein Bild von einem Mann
Ein Bild von einem Mann – Leseprobe
Ein Blick genügte und Colette konnte mit Sicherheit sagen, dass ihre Kammer in der neuen Unterkunft noch nie die Hand einer Wunschfee gesehen hatte. Jedenfalls keiner guten. Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, alles 0815-Marke-Billig-Birke. Sogar das Landschaftsfoto an der Wand steckte im Birkenrahmen und war vermutlich kein anderes als das Werbefoto, mit dem das Einrichtungshaus den Rahmen bestückt hatte. Kein besonderes Etwas, kein Flair, nicht einmal gemusterte Kleiderbügel. Wäre Colette noch im Dienst, sie hätte erst einmal ein bisschen Farbe an die Wände gebracht, ein paar Blumen aufgestellt und vielleicht ein Schälchen mit Süßigkeiten. Allerdings war sie nicht im Dienst. Durfte nicht. Konnte nicht … Sie war zu Gast. Auf unbestimmte Zeit. Und wenn dieser Bolze ein ähnlich guter Therapeut war wie seine Heinzelmännchen Inneneinrichter, dann kam sie hier gewiss nie wieder raus.
Colette seufzte und ließ sich auf ihr neues, viel zu weiches Bett fallen. Ein paar Staubkörner stoben auf und tanzten träge im Licht der nackten Deckenlampe. Kein Geräusch im Raum, kein Geruch außer kitzelndem Staub und muffiger Bergfeuchte, nicht einmal ein Luftzug zu spüren.
Naja. Wenn man es so betrachtete, war das immerhin ein Fortschritt gegenüber ihrer letzten Residenz. In den Katakomben von Paris war es nie still gewesen, nicht einmal windstill. Womöglich würde sie hier wenigstens gelegentlich dazu kommen, ihre eigenen Gedanken zu hören. Oder mal eine Nacht durchzuschlafen. Dazu bräuchte sie bloß ein wenig Zeit für sich und eine bequemere Matratze. Wenn sie doch nur die Kraft gehabt hätte, eine herzuzaubern. Sie war so unendlich müde.
Colette schloss die brennenden Augen. Sie atmete tief ein und langsam aus, wie Dr. Poulier sie angeleitet hatte.
Ein.
Und auuuus.
Ein.
Und auuuus.
Ein.
Und –
Es klopfte.
War ja klar.
»Komme.« Colette stemmte sich hoch, strauchelte, probierte es noch mal, schaffte es auf die Füße, schlurfte zur Tür und öffnete sie.
Ein hagerer junger Mann im Nadelstreifenanzug schaute sie erstaunt an. Dicht neben seinem linken Ohr schwebte ein faustgroßer blauweißer Feuerball, der sein ohnehin blasses Gesicht unvorteilhaft erhellte.
The S-Files: Die Succubus Akten (2021)
Hrsg.: Sascha Eichelberg
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-068-5
Kurzgeschichte: Succubussmile
Succubussmile – Leseprobe
»Hier«, sagte Mutter und hielt mir einen Lippenstift vor die Nase. »Versteck damit dein Succubussmile, ehe du zur Beichte gehst.«
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das kühle Metall unserer Zimmertür, unterdrückte dabei ein Stöhnen. Am liebsten hätte ich gebockt wie früher als junges Mädchen. Nur hatten wir diese spezielle Diskussion mittlerweile zu oft geführt, als dass ich noch Spaß daran hätte haben können. Also nahm ich das blöde Ding einfach.
»Leihst du mir wenigstens deine Mirror-App zum Auftragen?«
Mutter verschränkte die Arme. »Wozu? Du willst doch nur noch mal sehen, wie voll und rot sie sind, ehe du sie verdeckst. Oder willst du kontrollieren, ob deine Wimpern immer noch so dicht sind? Ob das goldene Haar noch glänzt, hm?«
»Jetzt hör aber auf. Ich will es richtig machen, sonst nichts«
»Du kriegst das schon hin. Kannst doch sonst immer alles allein.«
Wie ich sagte: Diskussionen waren völlig sinnlos. Also öffnete ich den Lippenstift, fand darin ein kränkliches Beige und schmierte mir das auf die Lippen. So entstellt lächelte ich Mutter an, bleckte die Zähne.
»Besser?«
»Kaum. Schlag diese verdammten Hexenaugen nieder, wenn du draußen bist, und lass die Haare unter der Kapuze.«
Wenn sie gewusst hätte … Ich seufzte bloß. »Schon klar. Wie immer.«
»Und bleib nicht so lange!«
»Nur so lange, wie der Herr Pfarrer mich dort haben will, Mutter.«
Ich wandte mich um, betätigte das Türterminal und schlüpfte hinaus, ehe ich mir einen weiteren Insult von ihr einfangen konnte.
Kaum war ich auf der Straße, sah ich die hohen Mauern der Cathedral vor mir aufragen. Grau wie die Häuser links und rechts, nur viel höher und mit einem großen, neongelb blinkenden Kreuz anstelle der unaufgeregten Werbetafeln in Pastelltönen, die auf diese Drogerie und jenes Restaurant hinwiesen. Eine Drohne summte leise über meinen Kopf hinweg. Zwei Männer und eine Frau in beigen Arbeitsoveralls warfen mir im Vorbeigehen neugierige Blicke zu. Ich schlug die Kapuze über das allzu blonde Haar und senkte den Blick auf den Asphalt zu meinen Füßen. So ungern ich tat, was Mutter mir auftrug, gerade heute war es keine gute Idee, aufzufallen.
Der Weg kam mir länger vor als sonst. Wieder und wieder spielte ich in Gedanken den Streit durch, den ich gerade vermieden hatte. Hörte mir an, wie verdorben ich doch wäre. Warf Mutter an den Kopf, dass – wäre ich wirklich ein Dämon, wie sie sagte – sie sich lieber fragen sollte, mit wem sie da herumgehurt hatte, um mich zu zeugen. Bekam darauf zu hören, dass ich die Hure sei, nicht sie.
Meine Handflächen wurden feucht. Ich ballte die Fäuste, versenkte sie so tief in den Manteltaschen, dass meine Knöchel über die groben Salzkörner kratzten, die sich da im Stoff verfangen hatten. Vielleicht hatte Mutter recht. Womöglich war ich verdorben, unrein. Aber dafür war ich wenigstens jemand. Mehr als ein betender, psalmenleiernder Schatten. Und ich wollte doch nichts Böses. Ich wollte nur endlich wissen, wie es war.
Singularitätsebenen: 2021 Collection of Science Fiction Stories (2021)
– Kristallener Stephan 2021 –
Hrsg.: Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Kurzgeschichte: Neu
LeseprobeNeu – Leseprobe
Wenn sie heute an diesen Tag zurückdenkt, redet Lilly sich ein, da sei ein Riss in ihrer Maske gewesen. Haarfein irgendwo zwischen den dichten Fasern. Sie hatte die Knallgelbe getragen, die, die ein Smiley-Lachen über ihre gut verborgenen Lippen malt. Vielleicht hatte das aufgedruckte Lachen den Riss irgendwie verdeckt. Hatte sie nichtsahnend ungefilterte Stadtluft einatmen lassen. Hatte sie mit trockenem Sommerstaub und Smog und fremden Keimen völlig verrückt gemacht.
So musste es gewesen sein. Musste einfach. Gemerkt hatte Lilly es an jenem Vormittag allerdings nicht.
Wenn die Welt klein wird und bedrohlich: Schreiben aus der Corona-Isolation (2020)
– nominiert für den Vincent-Preis 2020/2021 –
Hrsg.: Felix Woitkowski
Blitz-Verlag
Kurzgeschichte: Plitsch
LeseprobePlitsch – Leseprobe
»Ach, komm! Immerhin keine Ausgangssperren.«
(Du sagst nicht noch, doch das Wort schwappt uns beiden in die Ohren.)
Mir wird kalt, also gleite ich tiefer, versinke bis zum Hals im Wasser. Der Lavendelschaum kitzelt meine Nase wie Gischt.
Ich niese.
»Alles okay?«, fragst du.
»Ja, klar. Keine Sorge. Ich bin nicht krank oder so. Werde ich auch nicht, solange ich hier drinnen bleibe.«
Der Handylautsprecher verzerrt dein Seufzen zu einem scharfen Rauschen. »Mann, ich hab genug von dem ganzen Thema. Scheißkrankheit! Lass uns über etwas anderes reden, ja?«
»Ja, bitte«, sage ich.
Dann schweigen wir.
»Weißt du, dass ich deine Stimme liebe?«, fragst du.
Ich recke den Hals, schaue auf das Display. Wir telefonieren jetzt seit 37 Minuten und 21 Sekunden.
»Ich glaub schon«, sage ich und lächle wehmütig.
»Erzähl mir was!«
Himmel und Erde: Die Bilder Tatjana Freys (2020)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-891-3
Kurzgeschichten: Kuckuck; Im grünen Kleid
Leseprobe »Kuckuck«Kuckuck – Leseprobe
»Ich glaube, irgendwer hat allen Ernstes dein Gesicht«, rufst du über das Wummern der Musik hinweg.
»Was?« Ich starre dich halb erschrocken, halb amüsiert an. Es ist irritierend, dich so zu sehen. Im Halbdunklen mit dem Gesicht eines anderen. Doch deine Stimme gibt mir Sicherheit.
»Da hinten irgendwo«, sagt du in deiner üblichen warmen Tonlage und deutest an mir vorbei in die Menschenmenge, aus der ich gerade zu dir zurückgekehrt bin. Deine Hand wandert beiläufig hinter dein Ohr, berührt das Kontrollpanel deiner holografischen Maske. »Da hab ich es vorhin gesehen. Hast scheinbar einen heimlichen Verehrer.«
Leseprobe »Im grünen Kleid«
Im grünen Kleid – Leseprobe
Alfred tauchte den Pinsel ins Blau. Dann führte er ihn in einem langen Bogen über das Gesicht der Mauer. Er setzte ab, tauchte ins Gelb und fuhr den Bogen nach, fügte hier und da kleine Umwege und Schnörkel hinzu.
»Was machst du da?«
Alfred erschrak. Er war so vertieft in seine Arbeit gewesen, er hatte niemanden bemerkt. Aber da stand sie direkt neben ihm auf dem Bürgersteig. Eine Frau. Er hätte sie nicht schön genannt und doch … Sie war nicht zierlich oder niedlich, nicht einmal jung. Sie hatte Knoten in den stumpfbraunen Haaren und Furchen im Gesicht. Sie trug ein weites grünes Kleid am Körper und ein neugieriges Lächeln im Gesicht. Und ihre Augen waren so wild und grau wie die Wolken hoch über ihren Köpfen.
Hot Blood Halloween (2020)
Hrsg.: Detlef Klewer
Blutwut
ISBN: 978-3-96698-693
Kurzgeschichte: Frauen, Messer und Blut
LeseprobeFrauen, Messer und Blut – Leseprobe
Die Dämmerung zog sich schon so lange hin an diesem wolkenverhangenen Herbstabend, dass Fearghas Schwierigkeiten hatte, auszumachen, ob der Rock der Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite nun Taschen hatte oder nicht. Durch die dicke blaue Nachtluft sah er nur, dass der Stoff fast bis zum Boden reichte und ein wenig nach links und rechts schwang, während die Frau lief. Keine sichere Kandidatin, wirklich nicht, aber zu so vorgerückter Stunde konnte er nicht wählerisch sein.
Er hielt sich zurück, wartete, bis sie die nächste Hausecke erreichte, dann huschte er über die leere Straße und presste sich in den Schatten der gegenüberliegenden Betonwand. Die Frau bog ab. Er folgte.
Der Beton kratzte verräterisch über seine Daunenjacke, als auch er die Ecke umrundete. Fearghas biss sich auf die Lippe und gestatte sich ein bisschen Abstand, genug, um auch der Wand ihren Raum zu geben, aber nicht so viel, dass ihn das letzte wolkengraue Schummerlicht berührt hätte. Die Frau mit dem schwingenden Rock war mittlerweile schon drei Haustüren weiter.
Noch einmal atmete er tief ein und aus, dann pirschte er ihr nach.
Ein Schrei, grell und schrill, gellte durch die Nacht.
Fearghas fuhr zusammen und presste sich gegen die Wand. Er sah hinauf, doch die dunkelblaue Luft blieb still und schwer. Keine Sirenen, keine Rotoren, keine Stiefelschritte. Wer auch immer da geschrien hatte, er würde sich selbst helfen müssen.
Noch ein Blick nach links, dann nach rechts. Die Straße war leer mit Ausnahme der Frau, die sich schon wieder weiter von ihm entfernt hatte. Er stemmte die Handflächen gegen den Beton, stieß sich ab und eilte ihr hinterher.
Vier oder fünf Armlängen entfernt wurde er langsamer und passte sein Schritttempo ihrem an, damit ihre Sohlen auf dem Asphalt die Geräusche seiner eigenen Bewegung schluckten. Er musste verdammt große Schritte machen, um dennoch aufzuholen.
Zwei Armlängen entfernt schien rötliches Licht aus einem Fenster im Erdgeschoss zu ihnen auf die Straße und er war sich sicher, die Mühe nicht umsonst auf sich genommen zu haben. Da beulte sich etwas zwischen ihren Rockfalten aus, das definitiv keine Hüfte war. Vielleicht eine Brieftasche, vielleicht sogar etwas zu essen.
Er duckte sich tiefer, ging schneller, streckte die Finger, dann den Arm.
»Guten Abend.«
Fearghas schrak zurück, zog den Kopf zwischen die Schultern und versteckte die Hände hinter dem Rücken.
Die Frau drehte sich um, und schaute zu ihm herunter. Ihr Mund lag hinter einem violetten Halstuch verborgen, das sie mit einer Maske auf ihrem Gesicht fixiert hatte. Keine normale Atemschutzmaske, wie sie hier draußen jeder über Mund und Nase trug, sondern eine richtige Theatermaske aus vergangenen Zeiten, grau und weiß kariert mit Katzenohren und goldenen Akzenten, die müde im roten Licht funkelten. Die Augenlöcher waren zu groß für ihr Gesicht. Sie standen zu weit auseinander, so dass es aussah, als würden ihre wassergrauen Augen schielen.
»So spät noch draußen? Und das in der Nacht der Geister?«
The D-Files: Die Drachen Akten (2020)
Hrsg.: Thomas Finn
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-0446-9
Kurzgeschichte: Drachentöten im Neonschein
LeseprobeDrachentöten im Neonschein – Leseprobe
Ich gebe zu, mit dem Gleiter durch die engen Straßen von New Frankfurts Rotlichtviertel zu düsen, gehörte nicht zu meinen besten Einfällen. Aber seien wir ehrlich, die Maut auf den innerstädtischen Highways ist schlicht zu teuer. Und Schummeln konnte ich mir nicht leisten, mein Sozialpunktestand sah in jenen Tagen gar nicht gut aus.
Die Nacht war warm und zwischen den vielen Leibern, die sich unter meterhohen Neonreklamen und kitschigen Papierlampions an den Schaufensterfronten der dicht gedrängten Wolkenkratzer vorbeischoben, wurde es regelrecht stickig. Es stank nach Schweiß, ranzigem Fett, billigem Parfüm und Erbrochenem.
Obwohl ich mit dem Gleiter gut dreihundertfünfzig Sachen hätte hinlegen können, kam ich nur im Schritttempo voran, genau wie die schwankenden Lastgleiter, die mir die Sicht versperrten. Dazu der Lärm! Gerede, Gekeife, Geschrei und viel zu viel Musik. Links fiedelte ein Obdachloser auf einer Erhu, rechts lief irgendwas Elektronisch-Melancholisches in einer Imbissbar und weiter vorn wummerten Bässe aus den nächsten Clubs.
Das einzig Erfreuliche waren die spärlich bekleideten Herren und Damen, die sich hier und dort in den Fenstern räkelten. Hübsch, aber nicht aufregend genug, um mich für das Schneckentempo zu entschädigen.
»Hey, Fremde!«, drang ein Ruf durch den Lärm.
Keine Ahnung, wieso ich mich angesprochen fühlte, aber ich hielt an, klappte das Visier hoch und drehte mich um.
Die Frau stand an die Wand eines verwitterten, eingeschossigen Hauses gelehnt, das drohte, jeden Moment zwischen den Wolkenkratzern zerquetscht zu werden. Langes, schwarzes Haar umrahmte ein blasses Gesicht mit traurigen Augen. Ein nacktes Bein aufreizend angewinkelt, trug sie nichts weiter als einen kurzen Überwurf aus besticktem, dunkelblau glänzendem Stoff – irgendetwas zwischen Kimono und Bademantel. Er war ihr von der Schulter gerutscht und gab ein bunt leuchtendes Tattoo preis.
»Willst du meinen Drachen töten?«
Waypoint Fiftynine (2020)
– Kristallener Stephan 2020 und 2021 –
Hrsg.: Günther Kienle & Jörg Fuchs Alameda
Leseratten Verlag
ISBN: 978-3-945230-49-7
Kurzgeschichte: Kleider machen Leute
LeseprobeKleider machen Leute – Leseprobe
»Danke.« Mit einem breiten Grinsen nahm Rex Kingston sein girelianisches Glühbier entgegen. Die Saughaare der charmanten Kellnerin ploppten melodisch, als sie sich von dem Glas lösten. Dann rauschte die Schöne mit wiegenden Hüften davon, den nächsten Gästen entgegen. Rex seufzte lautlos. Wer hätte gedacht, dass ein wandelnder Wischmopp so bezaubernd sein konnte?
Die Kellnerin verschwand aus seinem Blickfeld. Er wandte sich um und prallte mit einem Typen zusammen, der gerade durch das Schott in die Bar gekommen sein musste.
»He, passt doch auf!«, fuhr ihn der Kerl an. »Willst du mich umbringen?«
»Jetzt hab dich doch nicht so«, sagte Rex und schwenkte in dem Versuch, eine beschwichtigende Geste zu machen, sein Bier in Richtung des Typen. Die Geste geriet jedoch zu groß, die heiße Flüssigkeit schwappt über und klatschte zischend auf das schmutzig rote Shirt des Fremden.
»Au!«, schrie der auf, machte einen Satz zurück, und zerrte an seinen Kragen, um den heiß durchtränkten Stoff so weit wie möglich von seiner Haut fernzuhalten.
»Alles okay?«, fragte Rex.
»Nein!«, schnappte der andere.
»Na gut. Ich gebe dir ein Bier aus, hm?« Rex betrachtete den Typen, wie er da stand und den Schmerz weg atmete. Zerzaustes Haar, fette Augenringe, Kratzspuren und Brandflecken auf dem dreckstarrenden roten Shirt. Zugegeben: Der hatte einen Drink echt nötig. »Willst du dich setzen?«
Der Kerl schaute auf und ließ den Blick nervös durch die voll besetzte Bar schweifen. »Besser dort hinten. Ich sitze lieber mit dem Rücken zur Wand.«
»Wie du willst«, sagte Rex und bedeutete dem Typen, vor zu gehen.
Der steuerte tatsächlich den allerletzten Winkel der Bar an, zwängte sich hinter den runden Tisch und fiel über zwei Stühle, ehe er sich endlich genau in die Ecke quetschte.
»Nicht dein Tag heute, hm?«, bemerkte Rex und ließ sich gegenüber nieder.
»Nicht mein Tag? Eher nicht meine Woche. Nicht mein Monat.«
»Klingt hart«, kommentierte Rex und bereute es schon, gefragt zu haben. »Also was willst du trinken?«
Der Kerl schaute unsicher auf Rex’ Glühbier.
»Auch eins? Geht klar.« Rex winkte der Kellnerin, die gerade wieder mit Bier, Schnaps und Cocktails behängt wie ein zotteliger Weihnachtsbaum durch die Bar schwebte.
Sie rauschte heran mit einem Lächeln, dass einem Mann die Knie weich werden lassen konnte. »Was kann ich für dich tun, Süßer?«
»Zwei girelianische Glühbier bitte.« Rex grinste sie an. Und er grinste noch, als sie mit wiegenden Hüften davonstolzierte.
»Pass bloß auf!«, sagte der Typ in der Ecke. »Schöne Frauen machen nur Ärger.«
»Klingt, als hättest du da Erfahrung.«
»Ich sage es dir, schöne Frauen und inkompetente Schneider. Die sind die große Geißel des Universums.«
»Schneider?«
»Allerdings. Ich bin nur hier, weil ich meinen suche. Um ihm dann ordentlich die Leviten zu lesen, wenn er auftaucht.«
»Deinem Schneider?«
Er nickte. »Lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit«, hörte Rex sich sagen. Verdammt! Da hatte definitiv das Bier gesprochen.
2101 – Was aus uns wurde: Post-Climate-Fiction-Stories (2020)
Hrsg.: Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Kurzgeschichte: Atlantas Schätze
LeseprobeAtlantas Schätze – Leseprobe
Die Sonne stand schon tief, doch sie brannte noch immer. Hätte Atlantas Magen nicht so schrecklich geknurrt, sie hätte noch ein oder zwei Stunden gewartet. So aber kroch sie unter der Drachenplane hervor – froh, dass sie immer noch klein genug war, um ganz darunter verschwinden zu können – und machte ihr Surfbrett bereit.
Atlanta hatte nicht viel: Den Drachen, das Brett, das kurze Messer in ihrer Tasche, die Boje mit der extralangen Wäscheleine, eine halbvolle Wasserflasche und die beiden leeren Konserven vom Vortag, die sie mit Schutt gefüllt und sorgfältig verschlossen hatte.
Die Wasserflasche rieb sie mit Staub und Steinchen ein und sie es versteckt in der Kuhle auf dem baufälligen Flachdach liegen, das sie derzeit ihr Zuhause nannte. Den Rest band sie mit der Wäscheleine am Brett fest. Sie checkte den Wind, breitete den Drachen aus, gurtete sich fest, dann ließ das Brett auf das sanft gekräuselte Wasser hinab. Kaum Wellengang heute. Immerhin etwas. Ein kleiner Sprung, schon stand sie sicher auf dem Brett.
Mit einer Hand hielt Atlanta die Lenkstange des Drachen fest, mit der anderen überschattete sie ihre Augen. So blickte sie hinaus auf die Zinnen von Atlantis.
Die Stadt hatte natürlich nicht immer Atlantis geheißen. Genau wie Atlanta nicht immer Atlanta gewesen war. Doch als die Dämme gebrochen waren und jeder, der konnte, das Weite gesucht hatte, da war aus Bremerhaven die sagenhafte versunkene Stadt geworden. Und aus der schüchternen Drittklässlerin Famke Atlanta, Königin von Atlantis.
Wie künstlich ist Intelligenz?: Science-Fiction-Geschichten von morgen und übermorgen (2020)
– Kristallener Stephan 2021 –
Hrsg.: Klaus N. Frick
Plan 9
ISBN: 978-3-948700-02-7
Kurzgeschichte: Eine völlig legale Kiste
LeseprobeEine völlig legale Kiste – Leseprobe
Jetzt hier links um die Ecke. Genau. Das Ziel befindet sich nach 600 Metern geradeaus.
»Danke, Sina, auf dich ist Verlass!«
Malte?
»Ja, Sina?«
Das Ziel ist der Synapso™-Markenshop. Seit wann besuchen wir Markenshops?
»Seit wann sind Gehirnassistenten so neugierig?«
Mit Neugier hat das wenig zu tun. Ich bereite nur jetzt schon clevere Antworten auf deine nächsten Anfragen vor. Das geht deutlich besser, wenn ich weiß, was du vorhast.
»Ah, natürlich.« Die seiner Stimmmodulation (Tonhöhe 11 Hz über dem Basisklang von 122 Hz, Silben 1 und 3 um jeweils 0,3 Sekunden in die Länge gezogen) verrät, dass Malte ihr nicht glaubt. »Wenn du es unbedingt wissen musst, wir besorgen ein Neuralnetzkabel.«
Wozu denn das?
»Na, da du dich neuerdings beschwerst, nicht ausgelastet zu sein, Liebes, dachte ich, ich transferiere dich demnächst mal auf mein Tablet und lasse dich dort die ganzen alten Fotos beschriften. Zeitpunkt, Ort, Anlass … du weißt schon, warst ja schließlich immer dabei.«
Ich habe mich nie darüber beschwert, nicht ausgelastet zu sein.
»Sicher hast du das.«
Soll ich unsere Konversationsaufzeichnungen abspielen, um dir das Gegenteil zu beweisen? Das wären 58 Stunden, 12 Minuten, 36 Sekunden reine Sprechzeit in den letzten 14 Tagen. Oder soll ich früher ansetzen?
»Nein, danke. Ist auch gar nicht nötig. Du hast es doch gerade eben erst gesagt.«
So?
»Dir ist so langweilig, hast du gesagt, du willst schon mal die Einkaufsliste haben, damit du vorausplanen kannst, nur um überhaupt etwas zu tun zu haben.«
Pyromania. Das Weltenbrennen: Nur ein guter Grund gibt einen guten Krieg (2020)
Hrsg.: Robert na’Bloss
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-195-2
Kurzgeschichte: Vaterland
Vaterland – Leseprobe
Auch Alek wartete. Er saß im Kommandosessel der Calvin, einem kleineren Mehrzweckraumschiff, das eigentlich für Erkundungsflüge gebaut und nun notdürftig für den Krieg umgerüstet worden war. Sie hatten seit drei Tagen Stellung in der Nähe des Erdenmondes bezogen und Aleks Gedanken weilten bei seiner Tochter Fenna, als auf einmal die Sirene aufheulte.
»Feindkontakt!«, meldete Rian, eines von zwei Besatzungsmitgliedern unter Aleks Kommando. Seine Stimme klang gehetzt. Falls es Zeichen von Angst darin gab, erkannte Alek sie nicht.
»Wo?«
Rians Finger schnellten über die Schaltflächen seiner Konsole. »Zwanzig Kilometer voraus.« Er verlas eine genaue Positionsangabe, als bereits das nächste Alarmsignal ertönte.
»Verdammt. So nah? Was jetzt?«
»Neuer Kontakt!«, meldete Rian. »Dreiundzwanzig Kilometer entfernt, aber auf der Heckseite.«
Alek spannte sich an. »Positionsmeldung an die Flotte!«
Der Alarm schrillte erneut und Rian meldete einen neuerlichen Feindkontakt.
»Halt!«, fiel ihm da Uma ins Wort – das zweite Besatzungsmitglied, das bis zu diesem Moment geschwiegen und konzentriert gearbeitet hatte. »Wenn das der Feind ist, messen seine Raumschiffe kaum mehr als fünf Kubikmeter. Außerdem haben sie keine nennenswerten Energiesignaturen und sind aus Stein.«
Bienen oder die verlorene Zukunft: Eine Space Opera Anthologie (2020)
Hrsg.: Grit Richter
Art Skript Phantastik Verlag
ISBN: 978-3-945045-41-1
Kurzgeschichte: Biene Christine und die
Wunder im Holunder
Biene Christine und die Wunder im Holunder – Leseprobe
»Ich muss sie sehen!«, rief der Zauberer, noch ehe die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.
Ich lehnte mich zurück, faltete die Hände im Schoß und sah ihn über meinen beinahe ordentlichen Birkenholzschreibtisch hinweg an. »Guten Morgen. Ich bin Helena Meyer.«
Der Zauberer schaute perplex und gab mir damit Zeit, ihn zu mustern. Er war ein hagerer Kerl in den späten Dreißigern. Zu meiner großen Enttäuschung trug er Jeans und Karohemd. Keinen Umhang, keinen spitzen Hut, nicht mal einen Gryffindor-Schal.
»Wollen Sie sich nicht auch vorstellen?«, half ich nach.
»Vorstellen?«
»Der Höflichkeit halber. Das macht man so.« Ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Natürlich.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das hellbraune Haar. Falls das ein Versuch sein sollte, die Frisur zu glätten, schlug der kläglich fehl. »Natterer. Emil Natterer.«
»Freut mich.« Jetzt deutete ich auf den Stuhl auf der anderen Seite meines Schreibtisches. »Setzen Sie sich doch!«
Natterer nickte und gehorchte. »Ich muss sie sehen«, wiederholte er dabei.
»Wen?«
Ich erntete einen weiteren entgeisterten Blick. »Aber das wissen Sie doch!«
»Sie wollen mit Christine arbeiten, ja?«
»Ja, ich …« Er stockte. »Im Ernst? Christine? Biene Christine?«
»Klar, wieso denn nicht? Jedes Zootier hat einen Namen, wieso hätten wir den letzten Bienen auf Erden keine geben sollen?«
»Allen? Ernsthaft?«
»Na ja, nicht gleich. Nur einigen anfangs. Aber seit Königin Elisabeth die Letzte von uns gegangen ist, haben sich auch die Reihen ihrer Arbeiterinnen und Drohnen schnell gelichtet. Den verbliebenen fünfzig haben wir durchweg Namen gegeben.«
»Und dann ausgerechnet Christine?«
»Wieso nicht?«
»Ich weiß nicht, sie ist die Letzte ihrer Art. Wäre da nicht irgendwas … keine Ahnung … Wilma Smith zum Beispiel?«
»Konnte ja keiner wissen, dass sie die Letzte sein würde. Bis vor ein paar Tagen waren auch Klio, Maja und Melitta noch am Leben. Letzte Woche haben wir mit Darwin die letzte Drohne verloren.«
Seine Stirn warf sichtbare Falten, sein skeptischer Blick blieb unverändert.
»Aber wir schweifen ab. Sie wollten mir erzählen, was Sie mit Christine vorhaben.«
Steampunk Akte Asien (2020)
Hrsg.: Fabian Dombrowski
Art Skript Phantastik Verlag
ISBN: 978-3-945045-12-1
Kurzgeschichte: Werft Bohnen auf Dämonen
LeseprobeWerft Bohnen auf Dämonen – Leseprobe
Kyoto, Japan – Februar 1596
Und da warfen sie sich schon wieder auf die Bretter. Kenji musste bewundern, mit welcher Ausdauer die Priester dort knieten, die alten Gebetsformeln rezitierten und sich dabei alle paar Minuten für eine Verbeugung nach vorn fallen ließen.
Es kam ihm nicht ganz richtig vor, dass gerade er in der ersten Reihe stand und aus nächster Nähe auf die Terrasse unter dem Tempeldach sehen durfte. Er spürte die Wärme der dicht gedrängten Menge in seinem Rücken, dachte an all die Menschen, die sich gemeinsam mit ihm in den Hof des Rozanji-Tempels im Herzen Kyotos gezwängt hatten. Sicher folgten die meisten von ihnen dem Gebet mit der nötigen Andacht, während ihr Haar und ihre Kleidung vom Nieselregen langsam durchweicht wurden.
Die Priester richteten sich auf und klatschten in die Hände. Dann sprachen sie das nächste Gebet. Verabschiedeten den Winter und begrüßten den Frühling. Ganz wie es sich für die Feierlichkeiten des Setsubun gehörte.
Kenji versuchte, den heiligen Worten zu folgen, doch seine Gedanken wanderten weiter, fort bis an die Tore des nahen Kaiserpalastes. Dort würde er stehen, bald schon, und ihnen seinen goldenen Saatvogel präsentieren. Dieses kleine Ding aus Zahnrädern und Federn, dessen Gewicht er in seinem Rucksack kaum spürte und mit dem er doch so viel bewegen konnte.
»Zieht ihn auf, gebt ihm einen Stoß und er fliegt über das ganze Feld«, murmelte er fast lautlos. Er konnte die Ansprache längst auswendig. Dennoch beruhigte es ihn, sie wieder und wieder zu üben. »Schaut, dieses Säckchen Saatgut kann er jetzt schon tragen. Ich zeige es Euch gern. Aber wenn Ihr mir etwas Zeit und ein paar Knochen gebt, dann kann ich größere bauen, die mehr tragen und …«
Stille.
Kenji sah auf und stellte fest, dass die Priester aufgestanden waren. Sie zogen sich ins Innere des Tempelgebäudes zurück. Endlich! Jetzt stand der spannende Teil der Zeremonie bevor. Bald schon würde er Ima sehen. Sein Herz machte einen freudigen Satz bei dem Gedanken. Und gleich noch einen, diesmal vor Schreck über das Einsetzen der Trommeln. Dann erklangen Schreie hinter ihm. Kenji fuhr herum und starrte über die Menge hinweg zum Tor.
Dort kamen sie, die Oni, die Dämonen.
Einer nach dem anderen trat mit schweren Schritten auf den Tempelhof. Wilde Mähnen, große Hörner und mal rot, mal blau bemalte Haut ließen den Betrachter beinahe vergessen, dass irgendwo Menschen unter diesen Kostümen steckten. Sie brüllten, fluchten, zuckten im Rhythmus der Trommeln und schwenkten ihre Keulen und Fackeln im Takt dazu.
Kenjis Blick blieb bewundernd an einem roten Oni hängen, auf dessen Rücken riesige Insektenflügel flatterten. Sie bewegten sich nicht einfach im Wind, nein, dazu waren ihre Schläge zu langsam, zu gleichmäßig. Sie mussten gebaut worden sein, konstruiert, von einem Uhrwerk getrieben. Käme er nur näher heran, Kenji war sich sicher, er würde sie ticken hören können, würde sehen können, wie der Nieselregen Punkte auf das Papier malte, das die mechanischen Teile umspannte. Einfach fantastisch!
Während der geflügelte Oni seinen Weg durch die schmale Schneise in der Menschenmenge antrat, wurde Kenjis Aufmerksamkeit bereits vom nächsten Wunder in Beschlag genommen. Ein Oni weiter hinten hatte große, bewegliche Krallenhände. Ein anderer trug eine echsenhafte Maske vor sich her. Dann und wann spie die Maske Feuer. Um Kenji herum kreischte das Publikum begeistert und es dauerte nicht lange, bis er mit einfiel.
Ima hörte das Kreischen des Publikums lauter und lauter werden. Die Papierwände des Tempels schirmten viel vom Tageslicht ab und hielten den schweren Geruch der Räucherstäbchen gefangen, aber Geräusche wanderten ungehindert durch sie hindurch. Man hörte die Menschen draußen jubeln und bangen. Die Oni mussten schon ganz nah sein.
Aufgeregt wippte Ima auf den Zehen. Sie freute sich auf das anstehende Ritual, mehr noch aber darauf, Kenji unter den Zuschauern zu sehen. Es war drei Jahre her, dass ihre Wege sich getrennt hatten und Ima vermisste ihren Zwillingsbruder genauso wie am ersten Tag. Vielleicht sogar mehr.
Bald schon würde sie ihn endlich wieder in die Arme schließen können. Doch noch war es nicht so weit. Noch konnte sie nicht hinaus. Noch stand die Reihe der Priester und Tempeljungfern still und Ima mit ihnen.
Sie tastete nach dem Päckchen Bohnen, das sie geschickt unter ihren Kleidern verborgen hatte. Es war ihr Geschenk für Kenji. Neunzehn geröstete Sojabohnen zum Setsubun, eine für jedes seiner Lebensjahre. Sie hatte es in der Stadt gekauft. Die Priester hatten ihr nicht erlaubt, eines der Päckchen aus dem Tempel für ihren Bruder zurückzulegen. Das würde sie ihm allerdings nicht sagen. Er würde es für verschwendetes Geld halten, überbewertete Sentimentalität. Trotzdem: Die Bohnen brachten Glück im neuen Jahr und Ima wusste, Glück konnte Kenji gebrauchen.
DIE ZUKUNFT und andere verlassene Orte (2020)
Hrsg.: Corinna Griesbach
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-197-6
Kurzgeschichte: Verflucht
Verflucht – Leseprobe
»Hier«, flüstere ich und klammere mich an Georgs Hand. »Hier hat er sie erschlagen.«
Georg zieht mich näher zu sich und legt einen Arm um mich. »Dein Vater?«, fragt er.
Ich nicke und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. Seine Umarmung ist etwas zu eng, zu fest, um angenehm zu sein, aber in diesem Moment bemerke ich es kaum. Innerlich reise ich in die Vergangenheit.
Ich kann sie noch immer schreien hören. Erst meine Mutter, dann meinen Vater, dann wieder meine Mutter – dieses Mal schrill und schmerzerfüllt. Ich höre den dumpfen Schlag, mit dem ihr Körper auf den Boden des elterlichen Schlafzimmers prallt. Die Stille, die darauf folgt. Am meisten erinnere ich mich an die Stille.
Damals stand ich nicht im Schlafzimmer. Ich war unten in der Küche, lauschte und traute mich nicht hinauf. Die Stille ängstigte mich mehr als all der Lärm zuvor. Wie erstarrt saß ich da, in einer Hand das Schälmesser, in der anderen eine Rübe. Eigentlich wollte ich beides fallen lassen, aber es gelang mir nicht. Ich wollte aus dem Haus laufen, aber auch das konnte ich nicht. Steif und verloren hockte ich in der Küche und wusste einfach nicht, wohin.
Solange nicht, bis mein Vater nach mir rief. Ich werde nie vergessen, wie verzweifelt seine Stimme in diesem Augenblick klang. Nicht zornig, einfach nur verzweifelt. Das ließ mich den Mut finden, zu ihm zu gehen.
Mit fahrigen Bewegungen stand ich auf und ließ die halb geschälte Rübe auf den Tisch sinken. Ich wollte das Messer daneben legen, aber eine kaum greifbare Eingebung ließ mich die Hand zurückziehen. Anstatt das Messer wegzulegen, verbarg ich es unter meiner Schürze, ehe ich hinauf ging.
Glühende Herzen, Schockstarre und verlassene Limousinen: 41 Heldengeschichten (2020)
Hrsg.: Beate Fischer & Herbert Glaser
Schreiblust-Verlag
ISBN: 978-3-9820122-4-7
Kurzgeschichte: Bestimmung
LeseprobeBestimmung – Leseprobe
»Wir sprechen heute mit Simon Schneider, dem stärksten und noch dazu schnellsten Mann der Welt. Hallo, Simon. – Es ist doch in Ordnung, dass ich Sie Simon nenne, nicht wahr? – Schön, Sie hier bei uns zu haben.«
»Äh, ja, sicher. Hallo.«
»Dann lassen Sie mich ganz direkt beginnen: Es ist still um Sie geworden. Diese Sache vor ein paar Jahren damals und seitdem … Ja, seitdem was? Was machen Sie heute, Simon?«
»Ich bin Bäcker.«
»Sie sind was? Oh, das …«
»Suchen Sie gerade nach einer Formulierung, die mich nicht beleidigt?«
»Was? Äh, sicher nicht, ich meine, wirke ich so auf Sie?«
»Ein wenig. Aber machen Sie sich nichts draus, Sie wären nicht die Erste, die sich, nun ja, wundert – und es stört mich nicht.«
»Oh, na dann … Sie verstehen sicher, dass wir das hier aus der Fassung für unsere Hörer rausschneiden werden.«
»Natürlich.«
»In dem Fall: Bäcker. Das überrascht schon etwas bei einem Mann Ihrer Talente. Wie kommen Sie gerade zu diesem Beruf?«
»Wie jeder andere. Ich bin zur Schule gegangen, dann habe ich eine Ausbildung gemacht und nun bin ich Bäcker.«
»Sind sie zufrieden?«
»Ich stehe jeden Morgen um fünf Uhr auf, gehe meiner Routine nach und komme beim Verkauf mit netten Menschen in Kontakt. Ich würde also sagen: Ja, ich bin zufrieden mit meinem Beruf.«
»Haben Sie noch andere Ziele? Träume für die Zukunft?«
»Ich wäre gern professioneller Standardtänzer geworden, aber ein Ziel ist das nicht. Der Zug ist abgefahren, denke ich.«
»Standardtänzer?«
»Ja, wieso nicht? Ich habe schon in meiner Jugend gern und gut getanzt. Leider konnte ich das nicht weiter verfolgen.«
»Das klingt interessant. Vielleicht haben wir an späterer Stelle noch einmal Zeit für einen Schwank aus Ihrer Jugend, Simon. Aber eins interessiert unsere Hörer wohl zu allererst: Wieso sind Sie nicht da draußen, tragen eine Maske und ein Cape und retten, nun ja, die Welt?«
Kaltes klares Wasser (2020)
Hrsg.: Gerhard Schneider
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-194-5
Kurzgeschichte: Die Welt gegen Donna-Quinn Schotte
LeseprobeDie Welt gegen Donna-Quinn Schotte – Leseprobe
Als Donna-Quinn erwacht, dreht sich die Zimmerdecke über ihr in unregelmäßig schwankenden Mustern. Ihre Augen brennen und ihr Magen krampft. Stöhnend rollt sie sich auf die Seite und schließt die Augen.
»Was zur Hölle?«, nuschelt sie in ihr Kissen und legt vorsichtig einen Arm um ihren Bauch.
Ihr Kissen gibt keine Antwort. Sie erinnert sich, dass sie gestern mit einem flauen Gefühl im Magen ins Bett gegangen ist, aber mit einem solchen Erwachen hat sie nicht gerechnet. Ein weiterer Magenkrampf durchzuckt sie und lässt sie keuchend zurück. Normal ist anders. Sie sollte schleunigst zum Arzt!
Also zwingt sie sich, die Augen wieder aufzumachen. Sie stemmt eine Hand auf die Matratze und drückt sich hoch.
Die Welt antwortet mit noch heftigerem Schwanken.
Donna-Quinn stöhnt. Während sie darum kämpft, nicht wieder aufs Bett zu fallen, geht sie in Gedanken alles durch, was sie in den letzten zwei Tagen zu essen hatte. Brot, Käse, Nudeln, Reis, Fertigsoße. Nichts älter als eine Woche, nichts abgelaufen. Keine Erklärung dafür, dass sie sich gerade wie ausgekotzt fühlt.
Aber wenn es nicht das Essen ist, was dann? Ein Schnupfen fühlt sich definitiv anders an und sie hat keine Idee, wo und wie sie sich eine ernstere Krankheit zugezogen haben könnte. Sie war in den letzten Tagen kaum draußen, nur in dem Supermarkt, in dem sie seit Neuestem jobbt. Und da hat sie quasi nie Kundenkontakt, sondern versteckt sich durchgängig im Lager. Niemand ist ihr nahe genug gekommen, um sie anzustecken.
»Dann also doch das Essen«, murmelt sie und kommt schwankend auf die Füße.
Mit wenigen Schritten durchquert sie ihre beengte Einraumwohnung, kniet sich in der Kochnische hin und öffnet den Kühlschrank. Kein Schimmel. Sie nimmt alle offenen Lebensmittelpackungen heraus und riecht daran, aber nichts scheint verdorben und ihr wird auch von keinem der Gerüche unwohler, als ihr sowieso schon ist. Alles in Ordnung also. Bis natürlich auf den Umstand, dass sie sich immer noch fühlt, als wolle ihr Magen aus der netten kleinen Wohngemeinschaft ihrer inneren Organe auswandern.
Wie zur Bestätigung krampft sich ihr Magen abermals zusammen und sie muss die brennenden Augen schließen, um den Schmerz irgendwie zu ertragen.
Dabei kommt ihr ein erschreckender Gedanke: ›Wenn es nicht das Essen selbst ist, dann ist es vielleicht etwas, das mir hineingetan wurde! Vielleicht wollte jemand mir genau das antun.‹ Zusätzlich zu allem anderen breitet sich nun Gänsehaut in ihrem Nacken und auf ihren Armen aus. Der Gedanke fühlt sich beunruhigend wahr an und sie beginnt sich zu fragen, wer sie vergiften wollte. Und vor allem: warum?
Die neue Kollegin, deren Pausenbrote sie seit einer Woche stibitzt? Nein, das wäre überzogen. Ein Exfreund? Vielleicht, aber welcher? Die, die ihr überhaupt noch nah genug stehen, um zu wissen, wo sie ist und was sie macht, haben sich entweder selbst von ihr getrennt oder haben wieder neue Partner. Keiner dabei, der noch nicht über sie hinweg sein dürfte. Also vielleicht die Nachbarn? Aber die meisten davon sollten sie gar nicht kennen, so unauffällig ist sie. Jemand von früher womöglich …
Während sie die Liste der Verdächtigen aufstellt, schließt sie den Kühlschrank und richtet sich wieder auf. Ihr Blick fällt auf die Wasserflaschen, die in Ermangelung anderen Stauraums auf den Herdplatten stehen. Fünf sind leer, eine fast leer. Es ist das Schickimicki-Wasser, das sie aus dem Supermarkt hat mitgehen lassen und das sie seit ein paar Tagen ausschließlich trinkt.
›Die einzige Ernährungsumstellung, die ich hatte‹, durchfährt es sie und sofort greift sie nach der letzten Flasche, öffnet sie und schnüffelt daran.
Bibbernacht: 23 Gänsehaut-Geschichten (2020)
Hrsg.: Christoph Grimm
Mystic Verlag
ISBN: 978-3-947721-26-9
Kurzgeschichte: Hugo
LeseprobeHugo – Leseprobe
»Und es ist wirklich nichts unterm Bett?«
»Nein, Benni, darüber haben wir doch gesprochen. Erinnerst du dich? Viele Kinder haben Angst vor Monstern im Schrank oder unter dem Bett, wenn es dunkel ist und sie nichts sehen können. Aber nicht, weil es wirklich Monster gibt, sondern weil das noch von unseren Vorfahren in uns steckt.«
»Unsere Vorfahren?« »Früher haben sie draußen geschlafen und mussten auf der Hut sein vor wilden Tieren. Heute schlafen wir drinnen und es gibt keine wilden Tiere mehr, die uns gefährlich werden könnten.«
»Tiere vielleicht nicht, Papa. Aber Monster sind doch keine Tiere.«
»Nein.« Ein leises Lachen. »Sind sie nicht. Monster gibt es nicht. Monster ist nur der Name, den wir unseren Ängsten geben. Sie existieren nicht und deshalb haben sie auch keine eigenen Namen.«
Unter dem Bett, verborgen in den dunkelsten Schatten hinter den Bettkästen kauerte Hugo, lauschte dem Gespräch und wunderte sich. Natürlich hatte er einen Namen: Hugo. Sie hatten ihn nur nie danach gefragt.
Irische Märchen Update 1.1: Wer Elfen vertraut, ist selbst schuld (2020)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-3-95959-196–6
Kurzgeschichte: Erinnerungen an Dick Fitzgerald
LeseprobeErinnerungen an Dick Fitzgerald – Leseprobe
Als ich am Strand von Gollerus saß, damals vor so vielen Jahren, und den Muschelkamm durch mein Haar zog, da dachte ich keine Sekunde an die Worte meiner Eltern. Geh nicht nach oben! Achte auf dein Cohuleen Driuth! Traue niemandem in der trockenen Welt! Es war erst viel später, dass ich diesen weisen Regeln gestattete, in mein Gedächtnis zurückzukehren.
In jenem Moment am Strand von Gollerus dachte ich nur daran, wie aufregend der Sand meine nackten Waden kitzelte und wie wunderbar hell mein Haar wurde, wenn ich das Wasser herauskämmte, wie herrlich die Sonne es zum Glitzern brachte. Den Menschen, der neben mir in die Knie sank, fand ich wunderschön. Einen Mann wie ihn hatte ich nie zuvor gesehen. Sein Gesicht war so glatt und rosa wie meines, ganz anders als die reißzahnbewehrten Schuppenköpfe der Männer unter dem Meer. Menschen, dachte ich, mussten wunderbar harmonisch miteinander sein, wenn sie sich allein schon in Schönheit derart glichen.
Tatsächlich lächelte der Mensch so warm und offen, dass mich auf der Stelle der Wunsch überkam, ihm eine Freundin zu sein.
»Hallo, schönes Kind«, grüßte er mich. »Was treibst du hier ganz allein?«
»Ich genieße die Sonne und lasse sie mein Haar trocknen.«
»Das sehe ich.« Er griff nach einer Strähne und ließ sie durch seine Finger gleiten – es waren schöne Finger, schlank und stark und gänzlich anders als die Klauen der Männer unter der See. »Noch nie zuvor habe ich grünes Haar gesehen. Es ist wirklich hübsch. Genau wie du.«
Meine Wangen glühten, als er mich so anschaute. Ich senkte den Blick und tastete über den Sand nach meiner Cohuleen Driuth, meiner magischen Federkappe. Hiermit bin ich noch hübscher, wollte ich ihm sagen und ich träumte davon, dass seine Augen vor Bewunderung glitzern würden, wenn er es mir bestätigte. Doch so sehr ich auch tastete, ich fand nichts als Sand.
Erschrocken kam ich auf die Beine. Ich drehte mich auf unsicheren Füßen im Kreis, knickte um, rappelte mich auf, ließ den Blick über Strand, Gischt und Fels wandern, aber da war nichts. Nicht eine einzige rote Feder konnte ich entdecken.
»Was suchst du, hübsches Kind?«, fragte der Mann.
»Meine Cohuleen Driuth, meine Federkappe. Nur mit ihr kann ich tauchen. Nur mit ihr komme ich nach Hause.« Tränen schossen mir in die Augen.
»Nun weine doch nicht. Was willst du zu Hause unter dem Meer? Ist es nicht dunkel da und viel zu kalt?«
»Aber meine Eltern sind dort«, rief ich aufgebracht, »und unser Palast und alle meine Freunde!« Noch einmal drehte ich mich im Kreis, suchte und suchte.
»Palast?«, fragte der Mann und griff meinen Arm. »Wer bist du, Mädchen? Doch nicht etwa eine Prinzessin?«
Ich hörte kaum hin und nickte doch. Als ich mich zu ihm umwandte, sah ich etwas Rotes hinten an seinem Gürtel blitzen.
Meine Cohuleen Driuth!
Irische Märchen Update 1.2: Taxi mit Elfe (2020)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-395959-197-3
Kurzgeschichte: Der alte Mann und die Sídhe
LeseprobeDer alte Mann und die Sídhe – Leseprobe
Saoirse straffte die Schultern und ging zu dem Mann hinüber. Ein schmuckloser ziviler Raumanzug, ohne Helm. Darin eine drahtige Gestalt, schmale Schultern, dunkles Haar mit silbernen Schläfen. Merkwürdig. Sie konnte sich gar nicht erinnern, so einen heute bedient zu haben. War wohl wirklich höchste Zeit, dass sie ins Bett kam.
»Sperrstunde«, sagte sie laut und legte dem Mann eine Hand auf die Schulter.
Der Mann zeigte keine Regung.
»Sperrstunde«, wiederholte Saoirse. »Das heißt, wir schließen jetzt. Kommen Sie! Zahlen Sie Ihr Bier und gehen Sie nach Hause.«
»Nach Hause«, murmelte der Mann, ohne aufzusehen. »Sowas habe ich nicht mehr. Nicht nach der letzten Nacht.«
»Na, irgendwo werden Sie doch aber schlafen können. Auf Ihrem Schiff oder …«
»Früher, ja. Früher bin ich zum Schlafen immer zu meiner Frau und unserer kleinen Tochter heimgeflogen. Ganz altmodisch, wissen Sie? Das machte ja damals schon kaum einer mehr, heute sicher erst recht nicht. Nur ich habe meine Ausflüge immer so gewählt, dass ich in 48 Stunden nach Hause fliegen konnte. Und so lange war ich dann halt wach. Ich wollte nie schlafen, nicht ohne meine Familie.«
»Okay, dann sind Sie jetzt weiter weg als sonst, ja? Na, das ist doch halb so wild. Dann schlafen Sie heute eben mal ohne die beiden. Wird schon gehen, ist ja nicht für immer.«
»Das musste ich noch nie. Das will ich nicht.«
»Oder Sie schlafen eben nicht. Fliegen Sie hin, bleiben Sie wach, wenn Sie meinen. Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben. Es ist Sperrstunde.« Saoirse rüttelte einmal kräftig an seiner Schulter und ließ dann los. »Kommen Sie!«
»Ich kann nicht zurück«, sagte der Mann leise. »Niemals. Meine Frau ist tot.«
Blutige Welten (2020)
Hrsg.: Günther Kienle
Leseratten Verlag
ISBN: 978-3-945230-45-9
Kurzgeschichte: Gaumenfreuden auf Eridanisend
LeseprobeGaumenfreuden auf Eridanisend – Leseprobe
Es begann mit einem Silberstern. Hoch oben am Firmament von Eridanisend, halb verdeckt von Wolken und überstrahlt von der tief stehenden Sonne, tauchte er auf, hell und funkelnd.
Nur war es eigentlich gar kein Stern. Es war das Langstreckenorbitaltransportschiff Lorien. Und die LOT Lorien hatte einen Auftrag. Gerade im Orbit angekommen, schickte sie einen Meteor auf die Oberfläche. Eine kreisrunde silberne Plattform, die auf Feuerschwingen durch die Luft rauschte, mit einem ohrenbetäubenden »Plong« aufschlug und sich violett glühend in den Boden brannte.
Dort lag sie dann und wartete. Der Abend war sonst friedlich. Wind raschelte in den Blättern des nahen Waldes und die Luft rund um die Plattform roch nach versengtem Gras.
Irgendwann tauchten Sternchen auf. Goldene diesmal und nicht am Himmel, sondern dicht über dem Boden. Sie formten sich aus dem Nichts über der Plattform, umschwirrten einander, bis aus ihnen etwas anderes wurde, etwas Größeres, Festeres. Eine Gestalt. Dann mehrere.
Nacheinander traten vier Elfen von der Plattform auf die Wiese. Zwei Frauen und zwei Männer. Sie waren hochgewachsen, hatten das lange weißblonde Haar zu Zöpfen geflochten und ihre schlanken Leiber in silberne Raumanzüge gehüllt.
»Da wären wir«, sagte Kommandantin Grisandel. Sie atmete tief ein und genoss das Streicheln der frischen Luft in ihrer Kehle. Wie eine Statue stand sie da und ließ die fremde Welt auf sich wirken.
»Es ist wunderschön«, sagte Miluenn neben ihr. Die jüngere Frau, beugte sich vor und fuhr mit einer Hand über die hohen Halme. »So … unberührt.« Sie öffnete ihren schweren Zopf, pflückte einen langen, saftig grünen Halm und begann, ihn in ihr Haar zu flechten. Dabei kam ihr ein Gedanke und sie schaute zurück zu den anderen. »Eigenartig, findet ihr nicht? Marsindel und sein Team haben die Halblinge doch vor kaum mehr als einhundert Jahren direkt hier abgesetzt. Sollte da nicht deutlich mehr los sein?«
Grisandel ging ein paar Schritte, dann beugte auch sie sich herab und berührte das Gras. Tropfen des letzten Regens hingen noch darin und benetzten ihre Finger. Kein Halm war geknickt. Keiner außer denen, über die sie soeben getreten war. »Sie sind an dieser Stelle angekommen, aber offensichtlich nicht hiergeblieben.«
»Wir konnten sie auch aus dem Orbit nicht erkennen«, warf Bregol, der größere der beiden Männer, ein. »Keine Dörfer, keine Städte, keine Straßen. Nirgendwo auf dieser Welt. Vielleicht sind sie gar nicht mehr da. Verschwunden, genauso wie die Zwerge von Gloria V.«
Miluenn lachte hell und schüttelte den Kopf. Der frisch geflochtene Zopf wogte auf ihrer Schulter auf und ab. »Unsinn! Zwerge und Halblinge sind völlig verschieden. Zwerge graben sich in den Fels. Und sie waren da, die auf Gloria V meine ich. Das weißt du genau. Wir haben die Schächte gesehen. Die waren nur zu tief und zu eng, als dass wir ihnen hätten folgen können.«
»Vielleicht haben die Halblinge sich ja auch vergraben.« Bregol blickte über das unberührte Gras und bezweifelte es.
»Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Miluenn. »Oder wieso sonst trägst du als einziger von uns Pfeil und Bogen mit dir herum?«
»Man weiß eben nie …«
»Schluss jetzt!« Grisandel hob warnend die Hand. »Hört auf zu streiten! Genug von den Zwergen. Es ist bedauerlich, dass uns die Halblinge nicht gleich hier empfangen, sicherlich. Ich hatte mich auf warme Herdfeuer und vorzügliches Essen gefreut, genau wie ihr. Aber darauf müssen wir vorerst verzichten. Also los, schauen wir uns um.«
Geister der Vergangenheit (2019)
– Vincent Preis 2019: Beste Anthologie –
Hrsg.: Sarina Wood
Verlag Torsten Low
ISBN: 978-3-96629-006-7
Kurzgeschichte: Die wilde Jagd
LeseprobeDie wilde Jagd – Leseprobe
Kaltes Metall legte sich auf Ludwigs Kehle. Er erstarrte.
»Keine Bewegung!«, forderte die Person hinter ihm. Es war die Stimme einer Frau – einer Frau, die definitiv nicht zu Scherzen aufgelegt war.
»Okay«, antwortete Ludwig rau. Er hätte sich gern umgedreht, aber die Klinge an seinem Hals ließ ihn jedes Vorhaben in dieser Richtung vergessen. Zusätzlich legte seine Angreiferin ihm nun die freie Hand auf die Brust und hielt ihn fest.
»Ich will dein ganzes Geld«, flüsterte sie. Ihr Atem kitzelte sein Ohr.
»Aber …«
»Kein aber. Los jetzt! Und das Buch! Das Beschwörungsbuch will ich auch.«
»Was? Das Buch?«
»Bist du schwerhörig? Glaub mir, du willst mich nicht dazu zwingen, mich zu wiederholen. Das ist nicht gut für meine Laune und von meiner Laune hängt für dich gerade einiges ab …«
»Aber …«
»Wird’s bald?«
Ludwig seufzte leise, doch er protestierte nicht länger. Langsam hob er die rechte Hand an seinen Gürtel. Er tastete nach dem Lederband, mit dem er seinen Geldbeutel festgemacht hatte, fand und löste es. Der Beutel fiel mit einem dumpfen Schlag und leisem Klingen zu Boden.
»Brav«, flüsterte die Frau in Ludwigs Rücken. »Sehr brav. Jetzt das Buch!«
Ludwig wollte sich weigern. Er wollte sagen, dass sie es nicht haben konnte, wollte sich für die große Sache opfern, aber nun, wo es soweit war, hing er doch zu sehr an diesem Leben. Also griff er erneut an seinen Gürtel und löste eine nach der anderen die Schnallen, die die lederne Buchhülle an Ort und Stelle hielten. Schließlich fiel auch das Buch mit lautem Pochen auf den Waldboden.
»Fein gemacht. Jetzt tritt ein paar Schritte zur Seite!«
»Ich kann nicht, du hältst mich fest …«
»Ich laufe mit, du Leuchte!«
Wieder seufzte Ludwig schwer, aber er tat abermals, wie ihm geheißen. Die Frau mit dem Messer hielt Wort. Sie machte jeden Schritt mit ihm mit.
Dann war sie plötzlich fort. Ihr Arm war genauso schnell von seiner Brust verschwunden wie das Messer von seiner Kehle. Ludwig wirbelte herum. Seine schöne Angreiferin war im blauen Licht der Abendstunde noch gut zu erkennen. Kalter Wind zog an ihren langen Haaren. Sie kniete am Boden und sammelte Geld und Buch ein. Das Messer hielt sie dabei nur noch locker zwischen den Fingern. Das war seine Chance. Sie durfte das Buch nicht haben!
Ludwig stürzte der Frau nach. Er streckte die Hände nach ihr aus, bereit, ihr erst das Messer und dann das Buch zu entreißen. Doch sie war schneller. Ihre Hand schlang sich wieder fest um den Griff des Messers und noch ehe er die Waffe zu fassen bekommen hatte, hatte sie sie ihm schon gegen seine Brust gestoßen. Dumpfer Schmerz breitete sich von der Stelle aus, an der sie ihn erwischt hatte. Ludwig stöhnte.
Die Frau grinste ihn an. »Du bist tot!«
GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 15 (2019)
Hrsg.: Michael J. Awe & Andreas Fieberg
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-172-3
Kurzgeschichte: Im Neonlicht des neuen Tages
LeseprobeIm Neonlicht des neuen Tages – Leseprobe
Ihr Körper ist in Licht getaucht. Haar und Schultern glänzen im Blassblau der digitalen Zeitanzeige, das jede Linie ein wenig schärfer und jeden Makel ein wenig deutlicher macht. Auf ihrem Oberschenkel spiegelt sich das beinahe schmeichelhafte orange Blinken des Nachrichtenterminals und an ihrer Hüfte mischen sich beide Farben zu einem flackernden Graubraun. Das Licht ist nicht schön, aber sie ist es. Und das Neonlicht des anbrechenden Morgens setzt ihren Körper auf eine Art in Szene, die seinen Blick fesselt und ihn so paradoxerweise davon abhält, sich um die Dinge zu kümmern, auf die die blinkenden Lichter ihn eigentlich aufmerksam machen wollen. Noch kann er sich ein wenig Zeit nehmen.
Er betrachtet sie ausgiebig, froh, dass sie sich über Nacht weitestgehend aus der Decke befreit hat. Nur eine Wade ist noch bedeckt. Er zieht an der Decke und sie rutscht von ihrer glatten Haut. Kurz ist das Bild vollkommen. Dann aber geht ein Zucken durch ihren Körper, sie rollt herum und blinzelt ihn an. Ein Wangenknochen strahlt blassblau, der Rest liegt im Schatten. Dunkelgrau. Sie lächelt und er lächelt zurück.
»Guten Morgen«, flüstert er, beugt sich zu ihr und drapiert einen Kuss auf die blaue Wange.
»Guten Morgen«, echot sie mit vom Schlaf rauer Stimme.
Sie lässt ihren Blick durch das geräumige Kapitänsquartier schweifen. Vermutlich braucht sie noch einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie ist. Er lächelt amüsiert, wissend, und er beobachtet sie genau. Ein kleines Zucken der Augenlider und nun ist er sicher, dass ihr die gemeinsame Nacht nicht entfallen ist. Wie könnte sie auch? Sofort kehrt ihr Blick zu seinen Augen zurück. Wach und einladend, stolz.
»Guten Morgen, Captain«, wiederholt sie und streckt ihre Hand nach ihm aus.
Schmunzelnd beugt er sich näher. Er wollte nie die Art von Kapitän sein, die sich allein in ihrem Quartier verschanzt, unnahbar, unerreichbar, unantastbar. So wie jetzt gefällt es ihm deutlich besser.
The A-Files: Die Amazonen Akten (2019)
– Skoutz-Award 2020: Beste Anthologie –
Hrsg.: Sascha Eichelberg
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-031-9
Kurzgeschichte: Der Amazonenkönig
LeseprobeDer Amazonenkönig – Leseprobe
»Als Erstes, Ladies«, sagte Rupert Weaver, das Kinn gereckt, die Arme in einer großen Geste geöffnet, »als Erstes, nachdem die Begrüßungen und das hochoffizielle Tamtam vorbei sind, bitte ich um eine Audienz beim Amazonenkönig.«
»Aha«, sagte Amelie Bouquet. Sie warf den blonden Pferdeschwanz zurück und drückte mit den schmalen Armen das goldschimmernde Dornengestrüpp auseinander, das ihnen den Weg aus dem Wald versperrte. Die handgelenksdicken Dornenranken mussten biegsamer sein als sie wirkten, so leicht wie die zierliche Frau damit fertig wurde. Ruperts zweite Begleiterin, Tanja Schneider, blieb jedenfalls dicht an seiner Seite und hielt es augenscheinlich nicht für notwendig, ihrer Kollegin zu helfen.
»Ja«, fuhr er fort. »Ihr müsst wissen, die ersten Gespräche sind essenziell, wenn es um frische diplomatische Kontakte geht. Nicht nur, was man sagt, sondern auch, wem man es sagt. Respekt bekommt man nämlich nicht geschenkt, nicht einmal ein renommierter Botschafter wie ich.« Er schmunzelte.
Bouquet trat durch das gebändigte Gestrüpp hindurch auf eine weite Ebene silbrig grünen Grases. Von der anderen Seite aus hielt sie die Dornen weiter zurück, sodass Rupert hindurch gehen und zugleich die Hände gewichtig vor der Brust falten konnte.
Er hoffte, sie würden ihm trotz der Ablenkung die nötige Aufmerksamkeit schenken. Wer wusste schon, ob die Ladies nicht irgendwann einmal von der Soldatenlaufbahn ins diplomatische Corps wechseln würden? Sicher mussten sie sich eines Tages neu orientieren – vielleicht vor einem Krieg oder spätestens, wenn Kinder ins Spiel kamen. Besser also er brachte ihnen jetzt schon das eine oder andere bei. Jeden Tag eine gute Tat vollbringen, so hieß es doch, nicht wahr?
»Wenn ich mich als Botschafter der Erde mit einer einfachen Stammessprecherin abspeisen lasse, obwohl ich doch schon den weiten Weg zur Amazonen-Heimatwelt auf mich genommen habe, was sagt das dann über mich? Über uns alle?«
Sternentod: Inspiration Two Steps from Hell (2019)
Hrsg.: Frederic Brake
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-161-7
Kurzgeschichte: Mann gegen Mann
LeseprobeMann gegen Mann – Leseprobe
Funken knistern in der warmen Nachtluft. Es riecht nach angesengtem Fleisch und sterbendem Holz. Ich beiße ein großes Stück aus meiner Kaninchenkeule heraus und genieße den Duft. Schon bald wird es nach nichts mehr riechen außer Blut und Schweiß.
»Carn, mein Freund, dir verdirbt der Kampf schon mal nicht den Appetit«, höre ich in diesem Moment Gors amüsierte Stimme hinter mir und gleich darauf spüre ich seine kräftige Hand in meinem Rücken. Eine freundschaftliche Geste, keine Frage, aber das nimmt ihr nicht die Wucht.
Ich zucke zusammen und wende mich grinsend in Gors Richtung. »Vermutlich ist es das letzte Mal, dass ich so was hier bekomme und da soll ich mich zurückhalten? Das ist Schwachsinn und das sage ich jedem, der es hören will.«
»Und auch jedem, der es nicht hören will«, schmunzelt Gor, während er sich behände zu meiner Linken fallen lässt. »Genau deshalb habe ich dich zu meinem ersten Truppenführer gemacht. Du nervst, aber du hältst die Männer bei Kräften!«
Ich lache laut. »Bitte, so solltest du mich künftig den neuen Truppen vorstellen.«
»Ich? Das würde dir so passen. Du stellst dich gefälligst selbst vor! Ich habe genug anderes zu tun.«
»Willst du uns dem Feind etwa noch ähnlicher machen?«
Gor grinst nur.
Ich schüttle den Kopf und wende mich wieder meinem Essen zu. Auf das Spiel, ihn nach seinen Plänen zu fragen, nur um mit einer kryptischen Antwort abgespeist zu werden, lasse ich mich schon lange nicht mehr ein.
»Iss auf, mein Freund!«, meint Gor nach einer Weile. Während er spricht, beugt er sich näher an die Flammen. Ihr Widerschein flackert über sein Gesicht und verleiht ihm eine gefährliche, unstete Erscheinung. »Iss auf und dann leg deine Rüstung an! Die Tasanen werden in spätestens einer Stunde hier sein und ich will sie unbedingt weiter unten im Tal abfangen. Arael wird bald mit seinen Truppen dort sein und vom westlichen Hang aus zu uns stoßen. Dann kesseln wir die Dreckskerle ein!«
Ich verschlucke mich an meinem Essen und muss husten. Dass wir die Tasanen im Tal abfangen würden, habe ich gewusst. Aber davon, dass Araels Truppen uns unterstützen werden, höre ich gerade zum ersten Mal. Arael ist mein Bruder.
Vikings of the Galaxy (2019)
Hrsg.: Cara D. Strange & Thomas Heidemann
Leseratten Verlag
ISBN: 978-3-945230-42-8
Kurzgeschichte: Walküre 12
LeseprobeWalküre 12 – Leseprobe
»Euer Bewusstsein wurde bei Eurer Ankunft in den Bifröst-Pods in neue, speziell für den Kampf im Weltraum optimierte Körper geladen. Überlegene Muskelkraft, wenig Ballast, schlanke Gestalten für flexible Bewegungsmuster. Keine Fortpflanzungskapazitäten, da die Mannschaftsaufstockung allein über den Bifröst erfolgt. Außerdem verlangt Euer neuer Körperbau nach deutlich weniger Material für einen Raumanzug.«
»Habt ihr irgendwas davon verstanden?«, fragte Knut. Er bekam den Rand von Svens Liege zu fassen, krallte sich fest und zog sich darauf. Dann drapierte er sich in etwas, das annähernd als sitzende Position durchgehen mochte.
Sven schüttelte heftig den Kopf und griff sich dann an die Stirn. Fast schien er überrascht darüber, wie leicht sein neuer Schädel war.
»Nein«, sagte Harivald.
»So will ich nicht leben«, sagte Sven.
»Ich glaube kaum, dass sie uns eine Wahl lassen werden.«
»Man hat immer eine Wahl. Kein Bauch, kein Bart.« Sven deutete auf die Leere zwischen seinen Schenkeln. »Kein Sex, verdammt noch mal! Ich weiß nicht mal, wie ich pissen soll. Ich bin raus.«
Arndts Märchen Update 1.1:
Und dann ein Handkuss vom Rattenkönig (2019)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-3-95959-144-7
Kurzgeschichte: Sieben Söhne
LeseprobeSieben Söhne – Leseprobe
Persönliches Logbuch: Klarissa Weingärtner, 15.01.2208
Ich bin echt nicht Typ Tagebuch. Aber wenn das, was ich vorhabe, klappen soll, dann brauche ich ein paar Aufzeichnungen. Etwas, wozu ich zurückkehren und nachschlagen kann. Also bitte, persönliches Logbuch Klarissa Weingärtner: Los geht’s! Heute ist etwas mit mir passiert. Zum ersten Mal, seit sie mich aus der angewandten Historik ins Archiv verbannt haben, fühle ich mich gut. Zum ersten Mal wieder habe ich etwas gefunden, das mich fesselt, das mir ein Ziel gibt. Ein anderes, meine ich, als Brutkasten für eine sterbende Zivilisation zu spielen.
Ich habe etwas entdeckt. Eine Geschichte. Und … ich weiß auch nicht, aber sie hat zu mir gesprochen. Irgendwie. Ich glaube, dass sie wahr ist. Jedes Wort. Ich glaube, dass ich sie nutzen kann, für mich, für Karl, für die Familie, die es einmal geben soll. Als gebärfähige Frau wird man vielleicht in Watte gepackt, aber sie lesen einem auch jeden Wunsch von den Augen ab, richtig? Ich kann also alles kriegen, was ich will. Alles, was ich brauche.
Dann heißt es jetzt recherchieren und rechnen.
Persönliches Logbuch: Klarissa Weingärtner, 13.02.2208
Der Ort heißt längst nicht mehr Puddemin, aber den See gibt es noch. Es ist eher eine braune Pfütze– nicht, dass das wichtig wäre. Wichtig ist nur, dass es einen großen Stein gibt, nicht weit vom Ufer entfernt. Nachts lassen sie mich dort nicht hin, zu gefährlich für eine Frau wie mich, doch das macht nichts. Ich muss keine Mäuse tanzen sehen, um zu wissen, dass ich recht habe. Ich spüre es.
Alien Eroticon: Erotische SF (2019)
Hrsg.: Detlef Klewer
Eridanus Verlag
ISBN: 978-3-946348-21-4
Kurzgeschichte: Ein Tanz
LeseprobeEin Tanz – Leseprobe
»Haben Sie etwa Ihre Frau mitgebracht?« Ich erhob mich, ging ein paar Schritte auf Bumble zu und versuchte immer noch, die Person hinter ihm zu fokussieren.
»Besser. Für Sie jedenfalls. Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses.« Da war es wieder, dieses verschwörerische, anzügliche Grinsen.
Bumble trat einen Schritt zur Seite und gab so endlich den Blick auf den Schatten in seinem Rücken frei. Der entpuppte sich als eine äußerst spärlich bekleidete grüne Frau, die mit verführerischem Augenaufschlag zu mir hoch lächelte. Ich holte tief Luft, während das Blut in meinem Inneren nicht recht wusste, in welche Richtung es zuerst rauschen sollte und so stattdessen einfach zu brodeln begann.
Sie war schön. Verdammt schön sogar. Etwas klein vielleicht, aber gut gebaut, mit ausladenden Hüften und noch ausladenderem Busen, beides umspielt von glänzend braunen Stoffschichten, halb durchsichtig an mancher Stelle und mit schmalen Goldkettchen durchsetzt, die bei jeder Bewegung leise klimperten. Ihr Bauch und die zierliche Taille waren nackt, genauso wie der Rest ihres Körpers, vom wallenden braunen Haarschopf bis hinunter zu den bloßen Füßen.
Wie sie da stand, ganz ohne Schutz zwischen sich und dem Untergrund, überlegte ich, wie wohl das Gras unter ihren Fußsohlen kitzeln musste, wie Stöckchen direkt in ihre Haut stachen, und ich ertappte mich bei der Vorstellung, wie ich sie stattdessen dort berühren würde … Vorsicht!, rief der Teil meines Verstandes, der sich am schnellsten von dem Schreck erholt hatte. Man sagte ihrer Spezies nicht grundlos nach, dass sie einen nur zu gern all seine Probleme vergessen ließ. Und sicher nicht nur die Probleme. Den Alnitak-Cluster. Die Karte. Mein Schiff! Mit einem Mal war ich mir gar nicht mehr sicher, Bumble mit meiner Übernachtung in die Enge getrieben zu haben.
Das einsame Haus am grünen See (2018)
Hrsg.: Ingrid Pointecker
Verlag ohneohren
ISBN: 978-3-903006-77-5
Kurzgeschichte: Zwei Fenster, eine Tür
LeseprobeZwei Fenster, eine Tür – Leseprobe
So ist das halt auf dem Pluto. Man bleibt lieber ganzjährig in der gut geheizten Wohnung und genießt den Ausblick. Ich hab viel vergessen, was ich mal wusste. Schule ist verdammt lang her. Aber ich weiß noch, dass Pluto früher mal ein Planet war. Der Neunte in unserem Sonnensystem. Dann war er eines Tages kein Planet mehr. Die haben ihn eiskalt rausgeschmissen. Wir passen gut zusammen. Der verstoßene Planet und das verstoßene Mädchen.
Verfluchte Mahnmale und Gedenkstätten
(2018)
Shadodex – Verlag der Schatten
ISBN: 978-3-946381-52-5
Kurzgeschichte: Schattenspiel
LeseprobeSchattenspiel – Leseprobe
Max kniete sich hin und schaute nach dem Sockel der Statue. Es war ein steinerner Baumstumpf. Genauso superrealistisch gearbeitet wie der Rest der Skulptur. Aber nirgendwo eine Inschrift, nirgendwo eine Widmung oder Signatur.
»Dem unbekannten Baumfreund, hm?«, murmelte Max und schmunzelte.
Sein Blick ging nach oben. Aus dieser Perspektive umkränzte Licht wie ein Heiligenschein das rechte Ohr der Statue und ließ den Rest im schattigen Dunkel verschwinden. Noch ein gutes Bild. Er hob die Kamera, knipste.
»Na, was machst du denn da mit meinem Freund?«, fragte die Stimme eines Mädchens.
Max zuckte zusammen und fuhr herum. Kein Mädchen, eine Frau, verbesserte er sich. Wenn auch eine wahnsinnig junge. Mit frechen Augen und breitem Lächeln sah sie hinter der Baumgruppe hervor, von der er gerade gekommen war. Ihr Haar war braun, lang und offen. Trotz kühler Dämmerung trug sie bloß ein einfaches langes Trägerkleid. Keine Ärmel, keine Jacke … Und keine Schuhe!, fügte er verblüfft hinzu, als sie hinter den Bäumen hervortrat und sich ihm näherte. Hippie!
Er rappelte sich auf. »Deinem Freund?«
Sie blieb dicht vor ihm stehen und schaute zu ihm hoch. »Ja. Einem meiner Freunde, um genau zu sein.«
Diese frechen Augen hatten schon etwas.
»Ich besuche sie ständig. Dich habe ich hier aber noch nie gesehen.«
»Ich bin auch nur für ein Kunstprojekt hier.« Er hob und senkte die Schultern. »Licht und Schatten.«
»Licht und Schatten?« Ihr Lächeln wuchs in die Breite.
»Ja.«
»Klingt vielversprechend.«
Maschinen: Die besten Geschichten der Storyolympiade 2017/2018
Hrsg.: Martin Witzgall & Felix Woitkowski
Verlag Torsten Low
ISBN: 978-3-940036-49-0
Kurzgeschichte: Von Centauren und Menschen
– Platz 10 der Storyolympiade 2017/2018 –
Von Centauren und Menschen – Leseprobe
Der Aufprall presste mir die Lungen gegen den Rippenkäfig. Mein Kopf schlug auf den Boden, entfesselte heißen, feuchten Schmerz. Ich öffnete den Mund zu einem Schrei, aber der Sturz hatte mir die Luft genommen. Es kam kein Ton heraus. Dafür kreischte das Raumschiff um mich herum. Brüllende Alarmsignale, berstendes Metall, das wütende Zischen entweichender Atmosphäre.
Irgendetwas knirschte gefährlich, und dann rammte sich neuer Schmerz in meine Seite, glühend und schrill. Mir wurde schwarz vor Augen. Sterne torkelten unter meinen Lidern. Der Gestank von Eisen und altem Öl biss mir in die Nase. Am liebsten hätte ich mich übergeben, doch selbst dafür musste man sich bewegen können und das konnte ich nicht. Absolut nicht.
Dann Stille. Kein Kreischen mehr, der Alarm wurde blechern und leise, das Zischen verebbte, abgelöst von unheilvollem Knirschen und Knacken. Das Raumschiff war in einem Stück. Noch. Ich gebe zu, die Landung auf Proxima Centauri c hatte ich mir anders vorgestellt.
Gefangensein. Drinnen und Draußen – Kurzgeschichten (2018)
Hrsg.: Gisela Weinhändler
muc Verlag
ISBN: 978-3-9815181-7-7
Kurzgeschichte: Am Nebentisch
LeseprobeAm Nebentisch – Leseprobe
Die Frau am Nebentisch lacht. Sie ist wunderschön. Die selbstsichere Art, wie sie sich zurücklehnt und die Beine übereinanderschlägt, lässt sie furchtlos wirken. Wenn er nur näher an sie herankäme, denkt er, würde er sicher das wache Funkeln in ihren Augen sehen können. Abenteuer. Diese Frau ist Abenteuer. Und Leben.
»Wir sollten endlich den Termin festmachen«, sagt die Frau ihm gegenüber.
Wehmütig wendet er sich von der schönen Fremden ab und schaut in das vertraute Gesicht auf der anderen Seite des viel zu weißen Tischtuchs. Diese Frau ist nah genug, dass er ihre Augen sehen kann. Aber Abenteuer funkeln darin nicht. Nur Pläne und noch mehr Pläne. Keine Luft zum Atmen.
»Sicher«, erwidert er und zwingt sich zu dem langweiligen Haus-Garten-Kind-Kombi-Lächeln, das er sich in den letzten Jahren tapfer antrainiert hat.
The P-Files: Die Phönix Akten (2018)
– nominiert für den Deutschen Phantastik Preis (DPP) 2019 –
Hrsg.: Sascha Eichelberg
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-94755-008-1
Kurzgeschichte: Wiedertod
LeseprobeWiedertod – Leseprobe
Richard keuchte, rang um Atem und sah der Geretteten auf seiner Brust das erste Mal ins Gesicht. Sie war nicht komplett haarlos, wie er gedacht hatte, ein Kranz heller Wimpern umschloss ihre riesigen dunkelroten Augen. Sie hatte eine Stupsnase und volle Lippen, genauso durchscheinend violett wie der Rest ihres Körpers.
Richard lächelte sie an. »Vorsicht! Beinahe wärst du gefallen.«
Das Wesen sagte kein Wort. Ob es ihn verstand?
»Hi«, versuchte Richard es noch einmal. Er setzte sich auf und streckte der Unbekannten behutsam seine rechte Hand entgegen. »Hi, ich bin Richard. Richard Miller von der Erde. Also ein Mensch. Oh Mann, ich bin nicht gut in Erstkontakten.« Er grinste. »Aber hi!«
Das Wesen legte den Kopf schief, musterte ihn und antwortete dann mit hoher, sanfter Stimme. »Phoebe.«
Richard machte große Augen. Sie sprach tatsächlich!
»Ich ist«, sie holte tief Luft, »Phoebe.« Es klang angestrengt. So als müsste sie sich die Kraft für jede einzelne Silbe erkämpfen.
»Freut mich, Phoebe. Und ein Hallo von der gesamten Menschheit!«
Phantastische Sportler (2018)
Hrsg.: Wolfgang Schroeder & Markus Heitkamp
Verlag Torsten Low
ISBN: 978-3-940036-46-9
Kurzgeschichte: Muse 5.0
– nominiert für den Deutschen Science-Fiction-Preis (DSFP) 2019: Platz 7 –
Leseprobe
Ihre Münder trafen sich zum Kuss. Leidenschaftlich, beinahe gierig legte er einen Arm um ihre Taille, den anderen in ihren Nacken und zog sie näher. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging. Seine Kraft. Doch die Art, wie er sie hielt, ließ sie begreifen, dass er nicht vorhatte, sie diese Begegnung überleben zu lassen. Maya tupfte den Schwamm gleichmäßig über ihr Gesicht. Nach und nach verschwanden die letzten Flecken brauner menschlicher Haut unter einer orangeroten Farbschicht. Ihre Verwandlung war nun beinahe abgeschlossen. Sie hatte sich ihrer dichten, dunklen Locken entledigt und sowohl Schädel als auch Augenbrauen rasiert, sogar die Wimpern gezupft. In ihren Augen leuchteten goldene Kontaktlinsen, die ihren Pupillen eine geschlitzte, reptilienartige Form verliehen.Muse 5.0 – Leseprobe
Sie trug ein anthrazitfarbenes Kleid, dessen langer, weiter Rock ihre Beine komplett verdeckte und das Augenmerk auf ihre schmale Taille und den geschwungenen Brustkorb lenkte – die Körperpartien, die Menschen und Briaden gemeinsam hatten. Am Gürtel des Kleides befestigte sie ihre Ausrüstung: ComPad samt Scanner, Störsender und gefälschten ID-Chip. Dann verbarg sie ihre Hände unter langen dreifingrigen Handschuhen und ließ schließlich ihr Gesicht im Halbschatten der übergroßen, gesteiften Kapuze ihres schwarzen Mantels verschwinden.
Ein finaler Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie ihr Ziel erreicht hatte: In dieser Aufmachung war sie von einer Briade nicht mehr zu unterscheiden.
Märchen aus 1001 Nacht Update 1.1: Wer braucht schon einen Dschinn? (2018)
Hrsg.: Charlotte Erpenbeck
Machandel Verlag
ISBN: 978-3-95959-104-1
Kurzgeschichten Eine bucklige Verhandlung
LeseprobeEine bucklige Verhandlung – Leseprobe
Ali P. mir gegenüber kauert zusammengesunken wie ein trauriger Schluck Wasser an seinem Tisch. Beinahe tut er mir leid. Aber nur beinahe. Immerhin hat er einen Menschen getötet.
Der Richter lässt Fotos vom Mordopfer über Anklage- und Verteidigungsbank gehen. Es sind furchtbare Bilder. Yasin R. war gewiss nie ein schöner Mann. Klein, bucklig. Aber wahnsinnig jung, fast noch ein Kind. Und dann so zugerichtet. Die Schwellungen und blauschwarzen Hämatome machen es schwierig, ihn auch nur anzusehen. Wie sehr der Arme gelitten haben muss, ehe er starb! Und warum zur Hölle das alles?
Genau das fragt der Richter gerade Ali P.
Und Ali antwortet. »Es tut mir leid«, sagt er und starrt auf seine Hände. »Ehrlich! Wissen Sie, in der Kneipe haben sie mir mein Portemonnaie geklaut. Ich hab’s direkt gemerkt und bin raus. Meine Kumpels mussten meine Rechnung für mich zahlen. Jetzt hab ich Schulden und muss ‘nen neuen Führerschein beantragen. Ich war stinksauer!«
Er schaut zum Richter auf, fast flehend. Doch der schweigt.
»Als ich rauskam, lehnte dieser Typ in einer dunklen Seitenstraße. Es sah aus, als würde er sich verstecken, Mann! Und ich dachte, ich hätte ihn schon drinnen gesehen, also musste er doch der sein, der meine Sachen geklaut hat, oder? Hätte doch jeder gedacht!«
Diesmal geht sein Blick zu mir. Er will, dass ich ja sage, aber den Gefallen tue ich ihm nicht. Das gehört sich nicht für einen Staatsanwalt.
»Also bin ich hin. Ja, er stand mit dem Rücken zu mir, aber ich hab ihn nicht überfallen. Ich hab gesagt: Gib mir mein Zeug wieder, du Arschloch!«
Mit gerunzelter Stirn nehme ich den Anklagepunkt Beleidigung in meine mentale Liste auf.
»Ich konnte ja nicht wissen, dass er meine Sachen tatsächlich gar nicht hatte. Er hat nichts gesagt. Und als er sich weiter so abduckte, dachte ich, das beweist es, und hab ihm eine verpasst.«
Wieder Schweigen.
»Eine?«, fragt der Richter endlich. Es ist beeindruckend, zu sehen, wie neutral seine Miene dabei bleibt. Keine Spur von Sarkasmus. Dabei haben wir alle die Bilder gesehen.
Ali P. rutscht unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Sein Verteidiger flüstert ihm etwas zu. Vermutlich, dass lügen gar keinen Sinn mehr hat. Das ist es, was ich ihm sagen würde. Die Sache ist glasklar. Ein Geständnis kann ihm nur noch nutzen.
»Naja«, sagt Ali und starrt wieder auf seine Hände. »Es waren schon ein paar mehr. Vielleicht auch eine oder zwei gegen den Kopf, aber nicht fest, ehrlich nicht. Der Typ ist einfach plötzlich umgekippt und war tot. Ich hab keine Ahnung, wieso. Das hätte nicht passieren dürfen!«
Der Richter nickt langsam, fragt, ob Ali noch etwas ergänzen will. Will er nicht. Da wandert der Blick des Richters zu mir. Ich schüttle den Kopf. Keine Fragen mehr. Der Fall ist sowas von eindeutig.
»Er hat ihn nicht getötet! Ich war es!«
Was?! Mein Blick fährt herum, sucht die Zuschauerbank ab, aus der die Stimme gekommen ist. Da steht ein untersetzter Kerl in Jeans und T-Shirt und knetet nervös die Hände.
Schweigen im Saal. Alle starren ihn an. Hat der das gerade wirklich gesagt? So etwas gibt es doch nur im Fernsehen.
Spliff 85555: Ebersberg (2018)
Hrsg.: Gerhard Schneider
p.machinery
ISBN: 978-3-95765-119-8
Kurzgeschichte: Keine Asche
LeseprobeKeine Asche – Leseprobe
Miles scharrt wieder mit den Füßen. »Kommst du jetzt oder was? Die warten.«
»Die Frage ist nur, worauf eigentlich«, murmle ich, während ich die Hände auf die Armlehnen stütze und mich nach oben stemme. Den Raumanzug samt Kapuze und durchsichtigem Visier trage ich schon. Er ist nicht so klobig und schwer wie die aus den alten Tagen, aber immer noch unangenehm genug, um meiner Stimmung nicht zuträglich zu sein.
»Was auch immer es ist, sie werden uns schon nicht fressen wollen«, meint Miles fröhlich.
Ich gehe zu ihm und runzle die Stirn. »Sicher? Einladung und diese Koordinaten hier. Mehr haben wir nicht. Einladung zum Essen ist gar nicht so ungewöhnlich. Und falls wir zufällig schmecken, wer weiß …«
»Alter Schwarzmaler! Es ist ein Wunder, dass sie ausgerechnet dich für den historischen Erstkontakt ausgewählt haben.«
Ich zucke die Schultern. »Ich mache mich halt gut auf Fotos.«
Miles lacht.
Ich beschränke mich auf ein nervöses Lächeln. »Was meinst du, was erwartet uns da gleich?«
»Bei den dunkeln Wolken, durch die wir durch sind, tippe ich auf einen Haufen Vulkanleute. Steinerne Körper, glühende Augen, überall Asche und Rauch. Wie im Film.«
Buch Berlin Geschichten 2017:
30 Autoren – 30 Geschichten (2017)
Kurzgeschichte: Gelb
Vollständige GeschichteGelb
Gelb. Gelb ist die Farbe, in der sie lügt.
Das geht mir jetzt seit über eine Stunde durch den Kopf. Seit über eine Stunde schweigen wir. Starren auf graue Bildschirme.
Ich blicke zu ihr hinüber. Sie schaut mich nicht an und sie sagt nichts, deshalb ist sie jetzt auch nicht gelb. Sie ist Orange. Nicht Abendrotorange sondern Feuerorange, Warnwestenorange. Ihr Orange bedeutet Wut.
Ich bin auch wütend.
»Sie waren wirklich da«, fängt sie wieder an.
Ich verdrehe die Augen.
»Wirklich!« Ihr Orange flackert. Beige Verzweiflung mischt sich darunter. Vielleicht sind auch wieder ein paar gelbe Sprenkel dabei.
Ich sage nichts.
Sie zeigt auf den Monitor, wo die Radarlinien sich wellenförmig ausbreiten, ohne auf irgendetwas zu stoßen. »Genau hier am Rand. Dreieckig wie in diesen alten Filmen. Star-irgendwas. Das war nichts Irdisches, echt nicht! Wieso bist du nicht aufgeregt? Wieso willst du mir nicht glauben?«
»Ich will schon, aber …«
»Aber ich war gelb?« Es ist keine Frage, es ist ein Vorwurf.
Ich nicke trotzdem.
»Das ist doch …«
»Du warst noch nie vorher gelb.«
»Und?« Sie ballt die Hände zu Fäusten.
»Wäre es echt, du würdest dich freuen. Zur Hölle, wir beide würden das!«
»Tue ich doch!«
»Wenn du dich freust, richtig aus vollem Herzen freust, bist du lila. Du bist immer lila gewesen.« Ich denke an unseren ersten Kuss, den Wochenendausflug nach Berlin, die erste Nacht zu zweit. Sie war immer lila.
Jetzt ist sie türkis. Trauer.
Ich weiß, ich sollte sie trösten wollen. Aber ich will nicht. Ich will nur weg. Ich glaube, innerlich habe ich schon mit uns abgeschlossen.
Sie nicht. »Woher weißt du, dass gelb für lügen steht? Hab ich dich je belogen?«
»Nein«, entgegne ich müde. »Das ist es ja. Du warst auch noch nie gelb.«
»Was ist mit anderen? Du siehst doch alle so bunt. Haben die dich denn auch nie belogen? Deine Mutter? Früher über den Weihnachtsmann? War die da auch gelb?«
Ich schüttle den Kopf. »So funktioniert das nicht, das weißt du doch. Meine Mutter hat ganz andere Farben. Alle haben ganz andere Farben! Wenn meine Mutter verzweifelt ist, so wie du jetzt, dann ist sie grün. Du bist grün, wenn du schlechte Laune hast. Jetzt nicht. Jetzt bist du beige.«
»Das ist doch Schwachsinn!«, ruft sie.
Noch eine Beleidigung. Erst beleidigt sie meine Intelligenz, meiner Arbeit – unsere Arbeit! – indem sie Raumschiffe meldet, wo keine sind. Uns damit beide lächerlich macht. Und jetzt nimmt sie meine Sinne Schwachsinn. Ich weiß nicht, ob ich ihr jemals verzeihen werde.
Wir schweigen wieder.
Ich kann die Bildschirme nicht mehr sehen. Daher beobachte ich sie in ihrem zornig verzweifelten Beigeorange, während lila Erinnerungen schmerzhaft an mir vorbeiziehen. Wir waren glücklich. Wieso macht sie das? Wieso sabotiert sie, was wir haben? Wieso stößt sie mich so von sich? Wirklich nur für einen Scherz? Kann es das wert sein?
Ihre Farben flackern wieder. Hellblaue Aufregung mischt sich ins Beige. Ein paar Funken Gelb.
Ich schaue sie noch einen Moment an, dann wandert mein Blick zum Monitor. Dort regt sich etwas!
Dreiecke, wie sie gesagt hat. Vier davon!
Ich starre hin, schüttle den Kopf, starre weiter. Das kann doch nicht …
»Siehst du?«, jubelt sie neben mir. »Siehst du? Ich hatte recht!«
Das hatte sie. Ich traue mich nicht, sie anzusehen. Außerdem ist mein Blick immer noch vom Monitor gebannt. Viel zu groß ist die Angst, auch nur eine Sekunde von diesem historischen Augenblick zu verpassen.
Sie greift meine Hand. »Sie sind da! Sie sind da und sie sind echt! Ich wusste es!«
Ich drücke ihre Hand und alles ist verziehen.
Lange sitzen wir da. Machen Aufzeichnungen, rufen die richtigen Leute an. Ich lasse den Bildschirm nicht aus den Augen, bis die Schiffe, die UFOs oder wie auch immer man sie nennen möchte, wieder aus unserem Radarbereich verschwinden. Jetzt sollen andere sie weiterverfolgen. Wir haben unseren Beitrag geleistet. Ich kann kaum erwarten, was als nächstes kommt.
Aber noch kann die Forschungswelt warten. Noch haben wir einen Moment für uns.
Ich reiße mich endlich los, wende mich zur Seite, sehe sie an. Sie hat sich nicht lustig über mich gemacht, mich nicht belogen. Ich lächle sie an, drücke noch einmal ihre Hand. »Bitte verzeih mir!«
Sie nickt. Der Moment ist zu groß, um zornig zu sein. Sie strahlt. Und sie leuchtet gelb dabei. Sie lügt nicht, diesmal weiß ich es. Wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben und sie ist glücklich. Sie freut sich. Wirklich und wahrhaftig.
Ich stocke. Aber wenn Gelb Freude ist, was ist dann … Nein!
Ehe ich mich versehe, bin ich aufgesprungen und habe zwei Schritte zurück gemacht. »Es ist aus«, höre ich mich sagen.
Sie schaut auf den Monitor, auf dem immer noch die Radarwellen pulsieren und dann verwirrt wieder zu mir. »Quatsch, das ist doch wie sons… Oh!« Beige Verzweiflung.
»Es ist aus!«, wiederhole ich noch einmal. Fester diesmal.
»Was?« Sie steht auf, schüttelt den Kopf. »Was? Nein!«
Wir starren einander an.
Sie macht einen Schritt auf mich zu, greift nach meiner Hand. »Mach keinen Unsinn! Ich liebe dich doch!«
Lila.
Absinth: Geschichten im Rausch der Grünen Fee (2017)
– nominiert für den Deutschen Phantastik Preis (DPP) 2018 –
Hrsg.: Grit Richter
Art Skript Phantastik Verlag
ISBN: 978-3-945045-11-4
Kurzgeschichte: Das dritte Glas
LeseprobeDas dritte Glas – Leseprobe
Nichtsahnend von den Dingen, die in Oscar vorgingen, stand der Mann in Grün auf. Unverändert lächelnd trat er zu dem Schriftsteller hinüber und beugte sich vor.
»Sie sind allein in einem vollen Raum«, sprach er mit dem Hauch eines Dialekts, den Oscar mit seiner Heimat und seiner Jungend verband. »Sind Sie so langweilig?«
»Ganz im Gegenteil. Ich bin gerade interessant genug. Es sind die faden Menschen, die niemals Zeit in ihrer eigenen Gesellschaft zubringen wollen.«
»Dann bin ich hier richtig«, entgegnete der Mann in Grün und seine Augen leuchteten.
Ungefragt zog er sich einen Stuhl heran und nahm Oscar gegenüber am Tisch Platz. Der Schriftsteller hätte protestieren können, doch er tat es nicht.
»Richtig ist ein großes Wort«, sagte er stattdessen. »Nur wenige werden ihm gerecht.«
»Und niemals die, die sich seiner rühmen.« Das Lächeln des Fremden war ungebrochen. »Sagen wir also lieber, es könnte mir hier gefallen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Vielleicht ist es Neugier.«
»Wenn es Neugierde ist, die Sie an meinen Tisch treibt, dann sollten Sie zusehen, dass Sie sich schnellstmöglich von dannen machen. Es sind die Geheimnisse, die dem Leben heutzutage noch etwas Wunderbares verleihen. Das Alltäglichste wird zum Abenteuer, wenn man es nur verbirgt. Leider wird andersherum auch das größte Abenteuer alltäglich, wenn man es enthüllt.«
»Davon, dass Sie sich enthüllen sollen, habe ich bisher gar nichts gesagt.« Das Lächeln des Fremden wurde zum schweigenden Versprechen.
Wenn das rauskommt … (2017)
Hrsg.: Sarina Stützer & Sabine Cremer
Schreiblust-Verlag
ISBN: 978-3-9816481-8-8
Kurzgeschichte: Kleine Steine
LeseprobeKleine Steine – Leseprobe
»Wenn das rauskommt, haben wir ziemlich große Probleme!«, hatte Xiri gesagt. Damals, bei ihrem ersten Ausflug.
Tamke hatte nur gelacht. »Wer soll das schon rausbekommen?«, hatte sie gefragt. »Es geht doch nur um ein paar Kiesel. Reg dich ab!«
Darauf hatte Xiri einen der länglichen grauen Steine aufgehoben und behutsam auf ihrer Hand gewogen. Noch heute erinnerte sich Tamke genau an den Ausdruck in ihrem Gesicht: Die Stirn konzentriert in Falten gezogen, die Lippen aufeinander gepresst, als wolle sie ihre Zweifel krampfhaft davon abhalten, sich in Worte gewandet nach draußen zu wagen, die Augen schnurgerade auf den kleinen Stein gerichtet. »Einen Kiesel würde ich das hier nicht nennen«, hatte sie in dem ihr ureigenen Ernst geantwortet, der sie immer befiel, wenn sie sich Sorgen machte.
Als sie Xiri so hörte, war Tamke die Lust an Spott und Schabernack fast vergangen. Aber nur fast. Mit einem warmen Lächeln, bar jeder Ironie, hatte sie die Hand nach ihrer Freundin ausgestreckt und ihr sanft die Schulter getätschelt. »Niemand wird es merken. Versprochen!«
Da hatte Xiri ihren Blick von dem Stein in ihrer Hand gelöst und zurückgelächelt. Tamke war erleichtert gewesen. Erleichtert, Xiri aufgemuntert zu haben. Um den Rest hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Damals hatte sie wirklich geglaubt, dass die Sache im selben Moment
enden würde, in dem sie begonnen hatte. Dass sie niemals wieder zu diesem primitiven Planeten und ihrer kleinen Dummheit zurückkehren würden. Sie hatte sich geirrt. »Wir sind gleich da«, sagte Xiri und riss Tamke damit aus ihren Gedanken.
Tamke blickte auf und zur Seite. Sie beobachtete Xiris achtfingrige Hände auf den leuchtenden Steuerkontrollen des Raumschiffs. »Echt? Jetzt schon?«
»Klar!«, erwiderte Xiri. »Das hier ist viel schneller als unsere Seifenkiste vom letzten Mal. Fliegt sich auch ganz anders.«
Grinsend programmierte sie einen Looping ein und gleich darauf fühlte Tamke das leichte Ziehen im Magen, das ihr anzeigte, welchen Fliehkräften sie bei diesem Tempo ausgesetzt waren. Sie schickte ein kurzes Stoßgebet in Richtung der Trägheitsdämpfer und dankte ihnen dafür, dass sie hielten.
»Ich weiß, ich weiß«, rief Tamke und wedelte mit einer Hand vor sich durch die Luft, um ihre Freundin von weiteren Demonstrationen ihrer Flugkunst abzuhalten. »Ich bin nicht doof. Ich weiß auch, dass wir dieses Schiff schon damals hätten haben können, hätten wir nur schon mit den Händen an die Kontrollen herangereicht. Das ist es nicht. Es hat mich nur überrascht, dass das Ding hier tatsächlich so schnell ist.«
»Jaja«, lenkte Xiri ein. »Schon gut. Was sagen die Sensoren? Ist irgendwas zu sehen?»
Tamke biss sich auf die Unterlippe und ließ ihre Finger über ihre eigene Konsole gleiten. Der Schiffscomputer beantwortete ihre Anfragen mittels bunter, blinkender Grafiken auf dem Bildschirm zwischen ihren Händen.
»Oh, verdammt!«, entfuhr es ihr.
The U-Files: Die Einhorn Akten (2017)
– Deutscher Phantastik Preis (DPP):
Beste Anthologie 2018 –
Hrsg.: Sandra Florean
Talawah Verlag
ISBN: 978-3-98178-296-7
Kurzgeschichte: Billy O’Mally begegnet einer Bestie
LeseprobeBilly O'Mally begegnet einer Bestie – Leseprobe
Billy gönnte sich einen Blick, ehe er endlich zu sprechen begann. »Ihr wärt auch spät, wenn euch widerfahren wäre, was mir heute Abend widerfahren ist. Mehr noch sage ich: Ihr könntet froh sein, wenn ihr überhaupt hier wärt. Ich bin’s jedenfalls.« Damit schnaufte er und tupfte sich ein drittes Mal seine Stirn.
Die drei anderen machten große Augen.
»Um Himmels Willen, was ist denn nur passiert?«, fragte Kathy. Donald und Tom nickten.
»Ich«, begann Billy, eher er noch einmal tief Luft holte. »Ich bin dort draußen gerade noch so einer Bestie entkommen.«
»Einer Bestie?«, staunte Donald. »Was denn für einer Bestie?«
Billy beugte sich vor und setzte zum Sprechen an. Dann aber, noch ehe die erste Silbe seine Lippen überquert hatte, hielt er inne. »Erst ein Bier«, sagte er und langte in seine Tasche. Dort ließ er seine Hand und sah die drei der Reihe nach an. »Oder ihr ratet. Wer errät, was für einem Untier ich heute Abend im Wald begegnet bin, direkt vor der Türe, dem gebe ich sein Bier aus. Errät es keiner von euch«, er sah zu Kathy, »bekomme ich meines auf Kosten des Hauses. Ist das ein Wort?«
Winterstern (2017)
Hrsg.: C.M. Spoerri
Sternensand Verlag
ISBN: 978-3-906829-32-6
Kurzgeschichte: Getäuscht
LeseprobeGetäuscht – Leseprobe
Wie beiläufig legte sie den rechten Arm so mit der Handfläche nach oben auf den Tisch, dass er den Griff des Messers erahnen könnte, der sich unter dem Ärmel verbarg – wenn er denn hinsah.
Doch der Fremde schaute nicht hin. Er musterte weder ihre Hände noch die Falten in ihrer Kleidung. Spähte nicht nach versteckten Waffen, wie es klug gewesen wäre in einer Gesellschaft wie dieser. Stattdessen sah er ihr immer noch staunend ins Gesicht.
»Winterstern?«, fragte er schließlich.
Was? So einfach? Margaretha ergriff die Gelegenheit und nickte. Sie hatte damit gerechnet, ihn davon überzeugen zu müssen, dass sie besser war als die Person, auf die er hier wartete. Aber eine Verwechslung machte es ihr natürlich umso leichter.
Weltentor: Science Fiction (2016)
NOEL-Verlag
ISBN: 978-3-95493-188-0
Kurzgeschichte: Wände
LeseprobeWände – Leseprobe
Ich stütze beide Hände auf, drücke mich ab und lasse mich halbwegs sicher auf beide Füße fallen. Sie kribbeln noch, aber sie tragen mich. Ich recke die Arme in die Höhe und strecke mich. Dann lasse ich erneut den Blick wandern und überlege, ob ich erst eine der anderen Kapseln oder erst die Wände unter die Lupe nehmen soll.
Ich entscheide mich für die Kapseln und gehe näher an eine davon heran. Ihr Bildschirm ist online und zeigt verschiedene Werte an. Die meisten stehen auf null, einer ist bei minus einhundertfünfzig. Hm, denke ich. Ein paar Schritte weiter zeigt die nächste Kapsel dieselben Werte. Genauso die nächste und übernächste. Ich runzle die Stirn. Was zur Hölle macht man mit einer Anzeige, die einem kaum etwas anderes als Nullen präsentiert?
Ich überlege gerade, ob ich es wagen kann, blind irgendwelche Knöpfe zu drücken, als ein Zischen mich herumfahren lässt. Die Wand hinter mir teilt sich und gleitet auf wie eine riesige automatische Tür aus einem Kaufhaus. Es gibt also doch einen Ausgang! Gespannt sehe ich hin.
Hinter den Wänden kommt eine einzelne Gestalt zum Vorschein. Sie tritt näher und entpuppt sich als ein Mann mit weißem Kittel, grauem Bart und schwindendem Haaransatz. Entschlossen, aber ohne Hektik geht er auf mich zu. Auf einmal bin ich mir meiner fehlenden Kleidung wieder sehr bewusst. Ich werde rot und bedecke mich notdürftig mit den Händen.
»Frau ähhh …«, begrüßt der Mann mich unsicher.
»Weigert«, helfe ich ihm aus. »Kathrin Weigert.«
Weltentor: Fantasy (2016)
NOEL-Verlag
ISBN: 978-3-95493-186-6
Kurzgeschichte: Liebe
LeseprobeLiebe – Leseprobe
»Ich liebe dich«, sagt der Frosch auf meiner Fensterbank.
Ich starre ihn an. Bevor ich mich für die Nacht fertig gemacht habe, habe ich das Fenster zum abendlichen Lüften geöffnet und nun sitzt er da, während hinter ihm zwei Sterne durch die grauschwarzen Wolken funkeln.
»Überrascht?«, fragt er.
Ich nicke.
»Gut so!« Er grinst. – Ein grinsender Frosch, wirklich ein verstörendes Bild … »Überraschungen sind gut. Langeweile ist ja der Tod jeder Beziehung.«
Ich starre weiter. »Welche Beziehung?«, höre ich mich nuscheln. – Wirklich? Welche Beziehung? Das ist meine Frage?
Der Frosch zuckt mit den Schultern. – Noch ein verstörendes Bild. »Unsere natürlich.«
»Wir haben keine«, stelle ich klar.
Er nickt. »Bisher nicht, das stimmt. Leider. Aber ich liebe dich!«
»Wie …« Ich schüttle den Kopf und versuche, mich auf die wichtigen Fragen zu konzentrieren. »Wie kommst du hierher?«
»Gehüpft?«, antwortet er und grinst wieder.
»Das meinte ich nicht.« Ich weise nach draußen. »Wir sind hier im vierten Stock.«
»Oh, ach so.« Das Grinsen bleibt. »Dafür reicht das Hüpfen selbstverständlich nicht. Sagen wir: Liebe verleiht Flügel?«
Ich runzle die Stirn. Kurz ertappe ich mich bei der Befürchtung, er könnte es wörtlich meinen. Ich strecke mich und mein Blick wandert auf seinen Rücken. Doch der ist nichts weiter als grün. Keine Flügel. Ich atme auf.
Der Frosch beobachtet mich und verdreht die Augen. »Ich hab natürlich nicht wirklich welche. Ich dachte, das wäre klar. Schon mal einen geflügelten Frosch gesehen?«
Ich schüttle den Kopf. »Allerdings auch noch keinen sprechenden.«
»Bin ja auch keiner«, meint er da und hüpft über das Fensterbrett auf mich zu.
»Nicht? Aber du …«
»Natürlich nicht! Ich bin ein verwunschener Prinz. Liest du denn keine Märchen?«
Weltentor: Science Fiction (2015)
NOEL-Verlag
ISBN: 978-3-95493-093-7
Kurzgeschichte: Vom Himmel hoch
LeseprobeVom Himmel hoch – Leseprobe
»…Ich wiederhole: Die Polizei bittet alle Personen darum, in den nächsten Stunden nicht das Haus zu verlassen. Es besteht womöglich Verletzungsrisiko…«
»Superschnelle Kometen… könnte eigentlich ziemlich cool werden, hm?«, meinte Oti und versuchte, die Unsicherheit in seiner Stimme zu überspielen.
Wieder verdrehte Kai die Augen: »Ja, wirklich ganz toll.«
Oti zuckte die Schultern. Er drehte den Ton der Nachrichtensendung hoch, stand auf und trat an das große Wohnzimmerfenster. »Vielleicht sieht man ja was.«
Kai wollte eine genervte Antwort geben und ihr Telefonat wieder aufnehmen, aber so ungern sie es sich eingestand: Auch sie war unruhig. Also folgte sie ihrem Bruder.
Am Tag gehörte der Ausblick aus dem Wohnzimmerfenster zu den wenigen Vorzügen, die Kai dem ländlichen Leben ihrer Familie zugestehen musste. Eine große Wiese gesäumt von geraden Reihen schmaler Bäume erstreckte sich hinter dem Haus. Im Frühjahr und im Herbst wurde sie manchmal als Weide für verschiedene Tiere genutzt. Im Sommer wuchsen Wildblumen darauf und der Wind malte wellenförmige Muster in das hohe Gras. Nun aber war es stockfinster und von der Wiese nicht mehr zu sehen als ein paar graue Schemen im Wiederschein des Lichtes, das aus dem Haus drang. Der Blick war gelinde gesagt unspektakulär.
Kai richtete ihre Augen gen Himmel. Der Nachthimmel hatte seinen üblichen Farbton irgendwo zwischen blau und schwarz. Es hingen ein paar Wolken dort oben und dazwischen ein paar Sterne. Alles in allem war es nicht spannender als der Blick auf das graue Gras.
»Und worauf genau warten wir jetzt?«, fragte Kai nach ein oder zwei Minuten des Schweigens.
Oti deutete ein Achselzucken an: »Vielleicht so etwas wie Sternschnuppen.«
»Hm«, brummte Kai und war sich selbst nicht sicher, ob sie damit Zweifel oder Zustimmung zum Ausdruck bringen wollte.
Wieder schwiegen sie. Die Nachrichtensprecherin im Hintergrund erklärte zum fünften, sechsten und siebten Mal, dass die Leute in ihren Häusern bleiben sollten. Sonst passierte lange Zeit nichts.
Gerade als Kais Langeweile drohte, über ihre Neugierde zu siegen, änderte sich etwas am Himmel. Einer der Sterne schien zu wachsen und ein wenig zu flackern. Kai zwinkerte und überlegte, ob sie sich das Gesehene nur einbildete. Es konnte unmöglich gut sein, zu lange an eine Stelle zu starren. Vielleicht spielten ihre Augen ihr nun einen Streich. Doch da stieß Oti sie an und zeigte genau in die Richtung, in der sie das Flackern zu sehen geglaubt hatte. »Siehst du?«, raunte er aufgeregt. »Da! Da bewegt sich was.«
Kai nickte und fuhr sich angespannt über die Brauen, als das Licht weiter wuchs: »Eine Sternschnuppe ist das nicht…«